Autorinnen: Katharina Koerth und Julia Köppe
Deutschland hatte das Coronavirus schon wieder gut im Griff, doch dann ließ der Corona-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies im Juni die gemeldeten Fallzahlen rasant steigen: Innerhalb kürzester Zeit steckten sich mehr als 1400 Arbeiter an und gleich zwei Landkreise mussten in den erneuten Lockdown. Die Infektionen bei dem umstrittenen Unternehmen in Rheda-Wiedenbrück sind der weltweit größte dokumentierte Corona-Ausbruch in einer Fleischfabrik.
Der Schuldige war schnell gefunden: Tönnies selbst - die Firma, die die Lust der Deutschen auf Wurst und Steak zu einem Massengeschäft hochskaliert hat. Rund 16,7 Millionen Tiere verarbeitet der Branchenprimus pro Jahr - und schlachtet damit mehr als seine beiden größten Konkurrenten Westfleisch und Vion zusammen. Auch Konzernchef Clemens Tönnies taugt gut zum Feindbild: Seine Nähe zu Russland, Rassismusvorwürfe - und überhaupt: Kann jemand, der bis zu 25.000 Tiere am Tag schlachten und osteuropäische Subunternehmer unter zweifelhaften Bedingungen für sich arbeiten lässt, unschuldig sein?
Trotz heftiger Reaktionen aus Politik, Gesellschaft und auch aus den Medien behauptet Tönnies genau das - und sieht sich durch eine Studie endgültig entlastet. Die Untersuchung erschien schon am 23. Juli, es war von einem Superspreader-Event die Rede, ein Ergebnis war, dass sich auch Arbeiter in acht Meter Entfernung mit Corona infiziert hatten. Den Angaben zufolge wurde die Studie nicht extern finanziert oder beauftragt.
Der SPIEGEL hat sich die Ergebnisse des Forscherteams um Melanie Brinkmann von der TU Braunschweig und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung nun genauer angesehen. Auf den ersten Blick hat Tönnies recht - er und sein Unternehmen sind demnach für die ersten Infektionen kaum verantwortlich zu machen. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.
Zunächst führt die Spur zum Ursprung des Ausbruchs keineswegs direkt zu Tönnies, sondern in eine Wurstwarenfabrik im niedersächsischen Dissen namens Westcrown, die gut 30 Kilometer entfernt vom Tönnies-Werk liegt.
Bei Westcrown waren Anfang Mai nach angeordneten Massentests in allen Fleisch-Großbetrieben Nordrhein-Westfalens 94 von 279 Mitarbeitern positiv getestet worden. Zwei Tönnies-Mitarbeiter, die in der Frühschicht im Werk in Rheda-Wiedenbrück Rinderviertel zerlegten, erzählten ihren Vorgesetzten danach, dass sie mit Kollegen aus Dissen bei einem Gottesdienst gewesen seien. Weil man das Infektionsrisiko als gering einschätzte, arbeiteten die Männer weiter, während sie auf ihr Testergebnis warteten. Es war positiv.
Ersten Ergebnissen zufolge gab nur einer der beiden Tönnies-Mitarbeiter das Virus weiter, die Forscher nennen ihn B1. Genomanalysen der Viren, die er in sich trug, zeigten bestimmte Mutationen, die später auch bei seinen Kollegen festgestellt wurden. So lassen sich Infektionswege zurückverfolgen.
Die beiden infizierten Tönnies-Mitarbeiter und fünf Kollegen aus derselben Wohnung gingen in Quarantäne. Der Schritt kam jedoch zu spät. B1 hatte das Virus bereits weitergegeben, Tests bei 18 der 140 Frühschicht-Mitarbeiter lieferten ein positives Ergebnis.
Die Arbeiter hatten gemeinsam in einer großen Produktionskette gearbeitet, bei der auf der einen Seite geviertelte Rinder einliefen und am anderen Ende als fertig verpackte Fleischstücke wieder herauskamen. Die meisten Mitarbeiter hatten ihren festen Platz, B1 stand ausgerechnet in der Mitte der Halle.
Die Forscher schließen daraus, dass sich das Virus vor allem über winzige infektiöse Luftteilchen verbreitet hat, sogenannte Aerosole, die sich über längere Zeit in der Luft halten können. In der Fleischzerlegung saugen Kühlanlagen permanent Luft ein, um die Raumtemperatur bei zehn Grad Celsius zu halten. Die Anlagen wirken wahrscheinlich wie ein Virenkarussell, das die infektiösen Partikel durch die Luft schleudert.
Mutmaßlich steckte B1 dadurch noch Kollegen an, die acht Meter von ihm entfernt standen. Was bedeutet, dass ein Abstand von anderthalb oder zwei Metern, der unter anderen Umständen als relativ sicher angesehen wird, in Schlachtbetrieben bei Weitem nicht ausreichen dürfte. Das könnte auch die vielen anderen Ausbrüche weltweit in Fleisch- und Fischfabriken erklären. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
"Unsere Daten deuten stark darauf hin, dass die Mehrheit der Übertragungen innerhalb der Rindfleischverarbeitung erfolgte, wobei Fall B1 der Ursprung des Clusters ist", schreiben die Forscher in ihrem ersten Bericht, der noch nicht von Fachkollegen begutachtet wurde. Die Wohnbedingungen spielten dagegen offenbar kaum eine Rolle. Nur bei einer von elf untersuchten Wohnungen und einer von neun Fahrgemeinschaften, die die Frühschicht nutzten, war die Infektionsrate auffällig erhöht. Die Betroffenen hatten jedoch auch nah beieinander gearbeitet.
"Wir können nicht ausschließen, dass es auch in Gemeinschaftsunterkünften zu einzelnen Übertragungen gekommen ist", sagt Brinkmann dem SPIEGEL. "Sie allein können einen Ausbruch in so einer Geschwindigkeit aber niemals erklären." Tönnies habe sich stets kooperativ gezeigt und alle Fragen beantwortet, auch "wer wo gearbeitet hat, wer mit wem in einem Auto saß".
Dieses Ergebnis ist ganz im Sinne des Unternehmens. "Mit dieser Studie ist jetzt klar, dass der Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück nicht unser Verschulden war", heißt es in einer Mitteilung an den SPIEGEL. "Verantwortlich waren weder fehlende Hygienemaßnahmen und schon gar nicht die Wohnbedingungen der Werkvertragsarbeitnehmer. Der Ausbruch geschah auch nicht, weil gegen Gesetze, Regeln oder Verordnungen verstoßen wurde. Es ist schlicht ein Problem aufgetreten, das niemand zuvor kannte."
Ob die Studie als Freispruch erster Güte für Tönnies taugt, ist allerdings keinesfalls so klar, wie es das Unternehmen offenbar gern hätte. Denn die Forscher untersuchten nur ein erstes Cluster.
Der große Ausbruch folgte gut einen Monat später.
Diesmal ging das Virus unter Mitarbeitern in der Sauenzerlegung um, 657 von 983 Proben aus der Abteilung waren positiv. Behörden zogen die Notbremse, Schulen und Kitas wurden geschlossen, der Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück eingestellt. Am 23. Juni mussten die Kreise Gütersloh und Warendorf zurück in den Lockdown.
Auch bei diesem Ausbruch trugen viele der Infizierten die Virenvariante in sich, die zuvor beim Rinderzerleger B1 festgestellt wurde. Laut dem Forscherteam um Brinkmann deutet das auf ein anhaltendes Infektionsgeschehen hin, das auf einen Ursprung zurückgeht.
Tönnies erklärt das mit weiteren Runden im Viruskarussell. Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemie-Krisenstabs bei Tönnies, sagt: "Es könnte innerhalb und außerhalb des Betriebes einzelne Ansteckungen gegeben haben. Von denen könnten dann Personen in der Schweinezerlegung vergleichbare Superspreading-Events verursacht haben wie bei dem ersten Ausbruch in der Rinderzerlegung."
Das habe man damals nicht erkennen können, weil viele Fälle symptomlos verlaufen würden und sich kein Mitarbeiter als mögliche Kontaktperson eines Infizierten gemeldet habe. Über die misslungene Eindämmung sei Tönnies "tief enttäuscht", sagt Schulze Althoff, man habe aber auch sicher einfach "Pech" gehabt, weil die infektiösen Arbeiter "offensichtlich [...] gar nicht wussten, dass sie infiziert sind".
Auch bei diesem Ausbruch dürfte der Helmholtz-Studie zufolge die Übertragung durch Aerosole eine Rolle gespielt haben, doch irgendwie muss das Virus ja in den Schweinebereich gelangt sein. In ihrem Fazit weisen die Forscher deshalb explizit darauf hin, dass die Wohnbedingungen bei diesem zweiten, größeren Ausbruch durchaus eine Rolle gespielt haben könnten. Der vermeintliche Ablass, auf den sich Tönnies nun beruft - eindeutig bewiesen durch die Wissenschaft -, ist daher fragwürdig.
Bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld sind bereits rund 50 Strafanzeigen im Zusammenhang mit dem Corona-Ausbruch eingegangen. Die Behörde ermittelt inzwischen auch gegen die Geschäftsführung von Tönnies. Es gebe einen Anfangsverdacht auf fahrlässige Körperverletzung und Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz.
Dass Tönnies sich durch die Studie entlastet sieht, ist für Rechtsanwalt Michael Winkelmüller, der sich auf Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz spezialisiert hat, auch eine Positionierung in den Ermittlungen. "Die Stellungnahme von Tönnies liest sich so, als hätte sie die Kausalität möglicher Pflichtverletzungen im Blick", sagt Winkelmüller. Was er meint: Tönnies wird wohl anzweifeln, dass sich die Corona-Infektionen der Mitarbeiter auf mögliches Fehlverhalten des Unternehmens zurückführen lassen. Denn dem Konzern drohen empfindliche Schadensersatzforderungen.
Grundsätzlich hat der Arbeitgeber eine Schutz- und Fürsorgepflicht, das heißt, er muss das Leben und die Gesundheit seiner Mitarbeiter am Arbeitsplatz vor Gefahren schützen. Dazu muss er das Arbeitsschutzgesetz und die jeweilige Corona-Schutzverordnung des Landes einhalten - und vermutlich auch den "SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard", den Minister Heil im April herausgegeben hat. Dieser rät etwa dazu, nicht nur eine Maskenpflicht einzuführen, sondern auch Plastikwände aufzustellen, wenn Angestellte den Mindestabstand von 1,5 Metern nicht einhalten können. Auch sollten mehrere Mitarbeiter nicht in einem Raum schlafen.
Das Problem für die Tönnies-Arbeiter: Die meisten sind bei Subunternehmen beschäftigt, sie könnten also nur ihren direkten Arbeitgeber wegen Verstößen gegen Arbeits- und Infektionsschutz belangen - oder müssten nachweisen, dass Tönnies als de-facto-Arbeitgeber die Schutz- und Fürsorgepflicht zukommt. Das dürfte nicht einfach werden.
Zudem könnte Tönnies laut Anwalt Winkelmüller argumentieren, dass etwaige Verstöße keine Auswirkung auf den Corona-Ausbruch in der Fabrik hatten. "Das wäre in einem Strafverfahren und auch in einem zivilrechtlichen Haftungsverfahren entlastend für die Verantwortlichen bei Tönnies", sagt der Anwalt. Dann würde wohl keine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässigen Pflichtverstößen drohen, sondern eher ein einfaches Bußgeld.
Doch Tönnies könnte auch auf anderen Wegen belangt werden. So könnten die massenhaften Infektionen entgegen der Regel als Arbeitsunfälle gewertet werden - die gesetzliche Unfallversicherung könnte dann die Behandlungskosten übernehmen und Regressansprüche an Tönnies oder seine Subunternehmer stellen. Inzwischen ist auch der Spitzenverband der Unfallkassen DGUV offen für diese Möglichkeit, wenn die betroffene Person lange mit einem Infizierten in Kontakt war oder es im Betrieb ein "Ausbruchsgeschehen" gibt.
Werkvertragsarbeiter haben Winkelmüller zufolge wohl die besten Chancen auf einen Schadensersatz aus "unerlaubter Handlung". Die Hürden dafür seien "hoch, aber nicht absolut unüberwindbar". Konkret könnten die Arbeiter Tönnies eine "sittenwidrige vorsätzliche Schädigung" vorwerfen. Um so argumentieren zu können, müssten Winkelmüller zufolge Verstöße beim Mindestabstand, der Maskenpflicht oder der Unterbringung aber schon gehäuft und systematisch vorgekommen sein.
Tönnies teilt dazu mit, dass Arbeitsschutzmaßnahmen "ganz klar zu befolgen" seien. "Wir sind auch heute noch der Meinung, dass unser Hygienekonzept von vor dem Corona-Ausbruch grundsätzlich geeignet war. Die Behörden hatten auch Kenntnis von diesem Hygienekonzept."
Inzwischen werden in dem Werk wieder 15.000 Tiere am Tag geschlachtet. Vor Corona waren es nach Konzernangaben bis zu 25.000. Das Hygienekonzept ist verschärft, eine neue Filtertechnik eingebaut und zwischen den Arbeitern stehen Plexiglasscheiben.
Ausgerechnet Tönnies könnte nun zur Blaupause für den Umgang mit Covid-19 in fleischverarbeitenden Betrieben werden. Man habe gerade erst eine Anfrage von einer nordamerikanischen Behörde bekommen, die um Informationen zum neuen Belüftungssystem gebeten habe, sagt Sprecher Markus Eicher. Auch mit einem der größten US-Produzenten sei Tönnies in Kontakt.
Krisenstabsleiter Schulze Althoff ist sich sicher, dass aus den neuen Erkenntnissen "wichtige Schlüsse für die weltweiten Ausbrüche" gezogen werden können. Es wird sich zeigen, ob das Virus ihnen recht gibt.