Katharina Finke

Journalistin & Sachbuch-Autorin

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Artikel

Gar nicht still

Foto: David Weyand

Michael Anti zählt zu den wichtigsten regierungskritischen Bloggern Chinas. Bisher hat er nie Kompromisse gemacht. Aber nun wird er Vater - und das ändert alles


Protest, Widerstand, Dagegenhalten - dafür steht das Wort „Anti". Und genau dafür möchte auch Michael Anti stehen. Er hat sich diesen Namen selbst gewählt. Es ist eine andere Identität als jene, die seine Eltern ursprünglich für ihn vorgesehen hatten. Sie tauften ihn Jìng, was so viel wie „still" bedeutet. Aber das wollte er nie sein, ganz im Gegenteil. „Ich habe diesen Namen gehasst, ich wollte schon immer ein Kämpfer sein", sagt der Mann, der mit bürgerlichem Namen Zhào Jìng heißt.

Die Möglichkeit zum Kämpfen ebenso wie seinen neuen Namen gab ihm das Internet. Mit knapp 76.000 Followern bei Twitter und knapp 62.000 bei Sina Weibo, der chinesischen Variante, ist Michael Anti heute einer der meistgelesenen und einflussreichsten Blogger Chinas. In seinen Nachrichten, die er auf Englisch und Chinesisch verfasst, bewertet er kritisch das aktuelle Weltgeschehen und setzt China in Bezug dazu. Sein Hauptanliegen: für Meinungsfreiheit kämpfen - und das möglichst bei jeder Gelegenheit.

Zum Gespräch kommt der 38-Jährige mit einem Tablet, dessen knallrote Hülle ins Auge sticht. „Das habe ich immer dabei, damit ich jederzeit etwas schreiben und es im Netz mit anderen teilen kann", sagt er, zupft sein dunkelblaues Jackett zurecht und bestellt einen schwarzen Kaffee. Für das Treffen hat er ein Café im Osten Pekings vorgeschlagen, in einem der Neubaugebiete, in denen sich ein Geschäftshochhaus mit Glasfront an das andere reiht.

Nicht immer ein Kämpfer

Er sei nicht immer ein Kämpfer gewesen und nicht immer gegen das Establishment, beginnt er zu erzählen. Er ist in gewöhnlichen chinesischen Verhältnissen aufgewachsen. Seine Mutter arbeitete als Buchhalterin, der Vater als Ingenieur. Beide waren Mitglied der Kommunistischen Partei - und so wurde auch ihr Sohn aktives Mitglied des kommunistischen Jugendverbands. Er ist 14 Jahre alt, als die chinesische Regierung beim Tian'anmen-Massaker 1989 die Proteste von Studenten mit Panzern niederwalzt. In seinem Teenager-Tagebuch klagt Anti die Demonstranten als Vaterlandsverräter an und verteidigt das Vorgehen der Armee. „Damals habe ich es nicht besser gewusst und bin der offiziellen Linie gefolgt", sagt er heute. Man kann seine jetzige Arbeit auch als einen Versuch verstehen, den Irrtum von damals wieder gutzumachen.

Was in Antis Jugend nicht von der Partei geregelt wird, bestimmt die Familie. Und die will, dass er in seiner Heimatstadt Nanjing Ingenieurwissenschaft studiert. Er folgt dem Wunsch, obwohl seine Liebe nicht der Technik gilt. Im Alter von 16, als er in der Schule ausgewählt wurde, seine Klasse durch eine Rede zu repräsentieren, hatte er seine Leidenschaft für die Sprache entdeckt. Damals, erzählt er, verspürte er das erste Mal den Drang nach einer anderen Identität. „Doch die Beschäftigung damit galt wegen der Kulturrevolution als zu gefährlich und war für mich damals noch undenkbar." Durch das Internet sollte sich das ändern.

Wenn er heute davon erzählt, klingt in seinen Worten noch die Euphorie von damals durch, als er diese neue Welt entdeckte: Mit Anfang 20 arbeitet er als Computerprogrammierer in einer Kleinstadt zwischen Schanghai und Nanjing. Auf seinem Heimweg fallen ihm die neuen Internet-Cafés auf, die gerade überall aus dem Boden schießen. Seine Neugier zieht ihn in eines hinein. Als er das erste Mal online geht, landet er in einem Forum, in dem über die Massaker in Indonesien debattiert wird. 1965 ermordete dort die Armee zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen, die Mitglieder oder Sympathisanten der Kommunistischen Partei waren. Um sich im Forum anonym anzumelden und mitzudiskutieren, wählt er einen neuen Namen. Er wird zu: Michael Anti. „Ich werde diesen Tag nie vergessen, es war der entscheidendste in meinem Leben."

Antis emphatische Erzählung erinnert daran, welches faszinierende und freiheitsbringende Medium das Internet sein kann. Etwas, das man sich in diesen Tagen mit der NSA-Überwachungsdebatte, in der das Netz oft nur noch als große Überwachungsmaschine erscheint, mitunter wieder einmal in Erinnerung rufen sollte.

Nach seinem ersten Kontakt besorgt sich der junge Anti schnell ein Modem und lädt sich unzählige Informationen aus dem Netz. „Das dauerte damals zwar alles ewig", erzählt er und imitiert das Geräusch des Modems. „Dafür gab es aber noch keine Firewall." So lernt er viel über die jüngere chinesische Geschichte, was sein Weltbild komplett verändert. Und er entdeckt, dass die Kommunikation im Netz keine Einbahnstraße ist. Er richtet seinen Blog „Freedom of Speech" ein. „So begann ich meine Karriere als Journalist, obwohl ich das nie gelernt hatte." Wegen seiner scharfen Analysen bekommt er einen Job als Kommentator bei der Huxian Times, wird später Korrespondent in Peking, schließlich Kriegsreporter in Bagdad.

Es dauert ein paar Jahre, bis die chinesische Regierung das Protestpotenzial des Internets wittert und die Great Firewall einführt, die aus China nur einen gefilterten Zugriff auf das Netz zulässt (siehe Kasten). 2005 führt Regierungsdruck dazu, dass der Microsoft-Konzern Michael Antis Blog löscht, sämtliche Einträge von ihm verschwinden. Es ist ein Schlag, aber es bringt Anti zugleich viel Aufmerksamkeit - nicht nur chinesische, sondern auch internationale. So wird er Rechercheur für das Pekinger Büro der New York Times und der Washington Post. Und er bekommt Stipendien der Unis in Harvard und Cambridge, ein Jahr lebt er in den USA. Dass er deshalb von manchen als „Agent des Westens" bezeichnet wird, störe ihn nicht, sagt er. „Die Leute sollen mich beschreiben, wie sie wollen. Ich habe nur ein Ziel: Meinungsfreiheit."

Dass der Kampf dafür nicht nur in China wichtig ist, spürt er, als Facebook sein Profil löscht, weil Michael Anti nicht der Name ist, der in seinem Pass steht. Facebook verweist zur Begründung auf die Nutzungsbestimmungen, die Pseudonyme ausschließen. Anti nennt die Entscheidung lächerlich, auch der Hund von Facebook-Chef Mark Zuckerberg habe schließlich einen eigenen Account.

Richtig hart treffen Anti aber Edward Snowdens Enthüllungen zu den NSA-Überwachungspraktiken. „Ich konnte nicht glauben, dass in einem Land, das Meinungsfreiheit so propagiert wie die USA, der Staat gleichzeitig so stark eingreift und man ihm nicht vertrauen kann. Ich war empört." Spätestens seit Snowden weiß die Welt, dass die Kontrolle des Internets keine rein chinesische Spezialität und der Kampf um die Freiheit im Netz ein globaler ist.

Eloquente Rhetorik

Anti ficht diesen nicht nur online aus, sondern auch offline. Er hält zahlreiche Vorträge, etwa an der Tshingua-Universität in Peking. Der Saal ist immer voll, und Anti zieht seine Zuhörer durch seine eloquente Rhetorik in wenigen Minuten in seinen Bann. Sein Engagement habe aber auch Grenzen. „Ich bin einfach nicht tapfer genug." Anders als sein Freund Liu Xiabo, der aufgrund seiner kritischen Kommentare zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, der aber 2010 auch den Friedensnobelpreis erhielt. „Ich bewundere ihn dafür, weil er alles für seine Mission getan hat", sagt Anti und wird nachdenklich. „Sobald du Angst hast, verlierst du den Kampf - und vielleicht ist das bei mir nun so."

Hätte man Anti vor Kurzem noch gefragt, was ihm das Wichtigste sei, wäre seine Antwort sofort „Meinungsfreiheit" gewesen. Heute, kurz vor der Geburt seines Sohnes, sieht das anders aus. „Ich habe einen Konflikt in meinem Herzen. Wenn ich Vater bin, geht es nicht mehr nur darum mein eigenes Leben zu riskieren, sondern auch das meines Sohns, meiner Familie." Und er hat gesehen, wie schnell das in China gehen kann. Nicht nur bei seinem Freund Liu Xiabo, sondern auch bei seiner eigenen Frau, die für das Staatsfernsehen CCTV arbeitet. Ihre Berichterstattung zu dem großen Erdbeben in Chengdu, im Süden des Landes, war der Lokalregierung zu kritisch, und so landete sie für einen Monat im Gefängnis. Diese Erfahrung hat Anti nachhaltig geprägt.

Dennoch echauffiert er sich im Gespräch über die chinesische Totalüberwachung. „Das ist alles komplett durchorganisiert, mit Personal, das rund um die Uhr arbeitet." Da gibt es Programmierer, die dafür sorgen, dass unzählige Schlüsselwörter automatisch gelöscht werden. Und es gibt mehrere tausend Angestellte, die überprüfen, in welchem Zusammenhang sensible Begriffe wie der Name des Präsidenten Xi Jinping verwendet werden. Sie entscheiden dann darüber, ob die geprüften Inhalte ins Netz gelangen dürfen. „Um dennoch Kritik zu üben, bedient man sich gewisser Codewörter", erklärt Anti. Am häufigsten dafür genutzt wird der Kurznachrichtendienst Sina Weibo, wo man 140 Zeichen hat, um seine Nachricht online zu stellen. „Der Vorteil ist, dass man in der chinesischen Sprache mit so wenigen Zeichen schon eine ganze Geschichte erzählen kann."

Bislang hat die chinesische Regierung kritische Geschichten auch selbst genutzt, um beispielsweise Korruption bei Lokalbehörden aufzudecken. Doch seit einem Monat ist damit Schluss. Xi Jinping hat das „Anti-Rumour-Gesetz" neu interpretiert. Wenn ein unwahrer Beitrag nun von mehr als 5.000 Nutzern gesehen oder über 500 Mal weitergeleitet wird, kommt der Verfasser ins Gefängnis. Und das geht schnell. „Da die Regierung bestimmt, was unwahr ist, kann sie quasi festnehmen, wen sie will", sagt Anti. „Aber es ist einfach nur dumm von ihr." Wenn der Bevölkerung auf diese Weise ein Ventil für ihren Frust weggenommen werde, steige der Unmut weiter. Antis persönliche Konsequenz aus der neuen Gesetzesinterpretation ist der Boykott: „Ich aktualisiere meinen Weibo-Account nicht mehr".

In welche Richtung sich China weiterentwickele, lasse sich nur schwer voraussagen, sagt Anti. „Bei so dummen Aktionen weiß man nicht, was als Nächstes passiert." Er wolle sich aber weiterhin für sein Land einsetzen, weshalb er auch nicht ins Ausland gehe. Nur mit seinen Netzaktivitäten verlässt er die chinesischen Landesgrenzen. Er nutzt ein Virtual Private Network (VPN), wodurch man über einen nicht chinesischen Internetanschluss umgeleitet wird, was er jedem in China dringend empfehle. „Aber jeder muss für sich selbst wissen, welchen Weg er einschlagen will." Er erwarte auch nicht, dass ihm sein Sohn eines Tages in seinem Kampf nachfolgt, fügt er hinzu. Der könne natürlich machen, was er dann selbst für das Richtige halte. „Da sind meine Frau und ich sehr liberal."

Trotz der Unberechenbarkeit der Regierung gibt Anti die Hoffnung auf mehr Demokratie und Meinungsfreiheit in China nicht auf. Er verdient weiterhin sein Geld als Kolumnist und Kommentator für chinesisch- und englischsprachige Zeitungen. Nur der Gedanke an das noch ungeborene Kind lässt ihn nicht los. Es sei der einzige Grund, sagt er, aus dem er Selbstzensur betreiben würde. Ein Kind liebe man einfach mehr als jedes Ideal - und sei es das der Meinungsfreiheit.

Katharina Finke recherchiert zurzeit mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung in China. Im Freitag schrieb sie zuletzt über das erste deutsche Filmfestival in Peking.

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