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Zurück in die Zukunft: Cardin, Meister der Weltraummode

Woran denken Sie, wenn Sie den Namen Pierre Cardin hören? Den Unwissenden klingt er heute vielleicht wie ein ausgedachter Designername, der Artikeln vom Wühltisch aufgeklebt wird, um sie dezent überteuert verscherbeln zu können. Jüngergeborene nämlich kennen ihn inzwischen vornehmlich aus einer Produktrange irgendwo zwischen Discount-Boxershorts, Cardigans mit einstelligem Kaschmiranteil und Schlüsselanhängern.

Tatsächlich gehört er aber einem Mensch aus Fleisch und Blut: Dem 1922  geborenen Modeschöpfer Pierre Cardin, der seinen Namen großzügig lizenziert, also gegen entsprechende Gebote zur Nutzung anbietet. Dass es noch einen gänzlich anderen Cardin gibt, davon zeugt jetzt eine Ausstellung im Kunstpalast Düsseldorf: Den Cardin, von dessen Abglanz natürlich bis heute auch seine lizenzierten Boxershorts und Schlüsselanhänger profitieren. Zugleich: Den Cardin, dessen Haute Couture- und Prêt-à-porter-Mode aber wirklich gar nichts mit der vornehmen Mittelmäßigkeit jener Produkte zu tun hat.

Und „Pierre Cardin. Fashion Futurist“ ist auch wirklich das treffende Motto für eine solche Retrospektive des Modeschöpfers: Hier geht es nun mit dem Franzosen zurück in die Zukunft der frühen 60er Jahre, als „neu“ noch gleichbedeutend war mit „besser“ und das Wort Veränderung ebenfalls nur Gutes verheißen sollte. Während man vor meterhohen Videoleinwänden das ausgesprochen reiche Erbe des Designers bewundern kann, säuselt im Hintergrund sphärische Synthiemusik.

Nicht nur privat, auch als Modemacher glaubte Cardin, der bei Dior als Couturier gearbeitet hatte, bevor er sich schon bald selbständig machte, an den technischen Fortschritt: Er stürzte sich in die Möglichkeiten, die die neu entwickelten, synthetischen Materialien für seine Arbeit versprachen. Vinyl, Lycra oder auch einmal Plexiglas bildeten die Grundlage für Kleider, Mäntel und Anzüge, die ihre Trägerin oder ihren Träger zumindest optisch bereit machten für die Reise ins Weltall. Und selbst bei den natürlichen Materialien nutzte der Franzose gern raffinierte Versionen wie Wollkrepp oder -Jersey. Nebenbei entwickelte Pierre Cardin seinen eigenen Stoff – Cardine, eine synthetische Thermofaser, die sich durch Einwirkung von Hitze individuell zupassen lässt. In Düsseldorf zeugen hiervon zwei Kleider, die mit reliefartigen Mustern geprägt wurden.

Bei aller Extravaganz schauen die meisten Cardins eigentlich ziemlich gemütlich aus. Bewegungsfreiheit liefern dehnbare Materialien oder reichlich großzügige Schnitte. Gern kreiert der Designer One-for-alls; Jumpsuits, Einteiler oder Kleider, mit denen man im Handumdrehen gut gekleidet ist, die ebenso casual wie elegant und auch für Reisen geeignet sein sollen. Damit drückte Pierre Cardin ganz nebenbei deutlich früher als andere Zeitgenossen seine Wertschätzung für ein modernes Frauenbild aus, in dem die Frau von Welt selbstredend reiste und arbeitete, statt nur hübsch dekorativ herumzustehen.

Mäntel und Kleider, die der Designer am liebsten ohne Schnittmuster anfertigte, sind ebenso schlicht wie spektakulär. Wie der Mantel aus der „Computer“-Kollektion, dessen Rückenpartie mit ihren Faltenelementen dem Lüftungsschlitz eines Computers nachempfunden ist. Oder die skulpturalen „Origami“-Mäntel, die Cardin über viele Jahrzehnte hinweg schneiderte. Auch Cut-Outs spielen für ihn, der die Live-Arbeit mit der Schere so liebt, kaum verwunderlich eine wichtige Rolle.

Viele der hier vorgestellten Stücke atmen ganz deutlich den Geist der Swinging Sixties. Doch man sollte ruhig hin und wieder einen Blick auf die Beschriftungen werfen: Etliches von dem, was hier nach 1969 ausschaut, ist tatsächlich zehn, zwanzig, sogar dreißig Jahre später entstanden. „Fashion Futurist“ folgt keiner strengen Chronologie, sondern nimmt die roten Fäden auf, die sich thematisch durch Pierre Cardins gesamte Tätigkeit ziehen.

Dazu gehören außergewöhnliche Schnitte – in der Abendgarderobe gern durch eingenähte Reifen auf die Spitze getrieben –, futuristisch anklingende Materialien und satte Farben. Gleichzeitig hält der Modeschöpfer nicht viel von Schnickschnack: Seine Accessoires, die Filzhüte, Vinylketten oder Metallcolliers sind klotzige Statementstücke. Für zarte Verzierungen oder gemusterte Stoffe hat er offenbar wenig übrig. Vermutlich ist es auch diesem Umstand geschuldet, dass Cardins Kleider aus der Space Age-Ära so viel besser gealtert sind als manch andere Mode aus jener Zeit.

„Pierre Cardin. Fashion Futurist“ ist ein schön schwelgerischer Trip geworden, und zumindest für den Modeschöpfer selbst noch nicht zu Ende: Die aktuellste Kreation in der Ausstellung stammt gerade einmal aus 2017. Und die erste Lizenz für seinen Namen? Die, lernt man hier, vergab der Modeschöpfer bereits 1959, im selben Jahr, als er auch die erste Prêt-à-Porter-Kollektion auf den Markt brachte.

Vielleicht war Cardin einfach schon immer beides: Ernstzunehmender Modeschöpfer und hemmungsloser Lizenzenvergeber, und zwar zusammen in Personalunion. Vermutlich hat ihn das Eine finanziell so unabhängig gemacht, dass er in den eigenen Kollektionen denn auch künstlerisch vollkommene Freiheiten genießt. Bis heute ist der 97-Jährige, was vielen Kollegen nicht gelungen ist, Alleineigentümer seines gleichnamigen Unternehmens.

Leicht gekürzt auf Spiegel Online. Zum Original