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Brutalismus-Ausstellung: Häuser aus der Stein-Zeit

Prächtige Ansichten tun sich auf: Dramatische Schluchten, schwindelerregende Höhen, bezaubernde Türme und Erker, massive Ecken und Kanten. Die sagenhaften Bauwerke, von denen im Deutschen Architekturmuseum aktuell die Rede ist, haben allerdings eine Eigenart: Sie sind aus Beton. Und sie tragen das auch ziemlich selbstbewusst vor sich her: Statt ihren Rohstoff zu verstecken, haben Architekten wie Le Corbusier und eigentlich schon ein paar Jahre zuvor Peter und Alison Smithson ihre Gebäude mit mächtigem, ungeschliffenem Beton ausgestattet. Und damit dem Baustil, der ab den 1950er Jahren die Welt eroberte, zu seinem Namen verholfen: béton brut steht für rauen, herben, ungeschönten Beton. Und schön oder gar gefällig im herkömmlichen Sinne sollte jener Brutalismus auch überhaupt nicht sein. Aber neu, vielfältig einsetzbar und enorm lebendig.

Der Protest gegen die neue Schule, die in Europa auch im Sozialen Wohnungsbau eine wichtige Rolle spielte, ließ nicht lange auf sich warten: „Vater-unser-Garage, Maria-Sprungschanze, Seelen-Silo, Luther-Achterbahn“ lautet eine der schönsten Schmähungen, mit denen der SPIEGEL bundesdeutsche Anwohner und Bürger über die neuen Bauwerke zitierte und die jetzt die Schau eröffnen. Von Betonwüsten, Verschandelung und grauen Höllen war dort in den 60ern die Rede. Mit übrigens einer Ausnahme: Brutalistischen Kirchenbauten, die ebenfalls im Kommen waren, schlug in Deutschland deutlich weniger Unmut entgegen. In einem entlegenen Tal in der Schweiz ließ man gar ein regelrechtes Kirchenschiff aus dem Baustoff errichten: Architekt Walter Maria Förderers Kirche St. Nicolas ist außen gigantisch und innen, das müssen selbst Betonhasser anerkennen, erstaunlich hell und atmosphärisch.

 „Im Unterschied zur Moderne war der Brutalismus weniger doktrinär, “ erklärt Kurator Oliver Elsner das Phänomen der weltweiten Verbreitung, die ab den 1960er Jahren begann und irgendwann in den 1980er Jahren wieder sein Ende fand. So konnte der Brutalismus höchst eigenständig von den Architekten in den jeweiligen Regionen aufgegriffen und transformiert werden. Von Frankreich und England bis nach Brasilien findet man heute entsprechende Bauwerke, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, in Afrika, Japan, Tunesien und Israel, selbst bis nach Papua-Neuguinea hat es der Brutalismus geschafft: Sozial engagiert wie in der Architektur-Fakultät von São Paulo, deren komplett offene Gestaltung ohne Eingangstüren die Studierenden stets an die arbeitende Klasse, in deren Dienste sie als Architekten schließlich stünden, erinnern sollte. Ziemlich verspielt wie in einem japanischen Wohnhaus oder in einem Postgebäude im nordhessischen Marburg. Mächtig und massiv. Irre komisch. Und immer wieder erstaunlich licht und anmutig.

„SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!“ ist zum einen eine Bestandsaufnahme, die nicht verschweigt, dass die Abgrenzung dieses außergewöhnlichen Baustils zu anderen mitunter schwierig sein kann. Aber natürlich ist die Ausstellung durchaus parteiisch: Mit der gleichnamigen Kampagne wurden Bauwerke in der ganzen Welt katalogisiert und somit einem breiten Publikum sichtbar gemacht – im Idealfall, so die Hoffnung, können einzelne Bauwerke auf der „Roten Liste“ somit gar vor dem Abriss bewahrt werden. Wer denkt, über Geschmack ließe sich nicht mehr so richtig streiten, der darf es jedenfalls gern mit diesem Thema versuchen: Verteidiger der brutalistischen Bauwerke können sich leicht den Vorwurf einfangen, abgehoben oder gar ein heuchlerischer Bohemien zu sein.

Aber Geschmack allein ist eben auch eine wankelmütige Angelegenheit. Der Zeitgeist findet heute dies und morgen das gut. Im Zweifel schlägt sein Herz eher für die wiederaufgebaute Disneyland-Altstadt als für vorhandene Bausubstanz, die vielleicht erst vor wenigen Jahrzehnten errichtet wurde. Dabei ist das Hochziehen von vermeintlich Historischem zutiefst ahistorisch: Was Vergangenheit ist und was nicht, bestimmen offenbar Gefühle und Befindlichkeiten. An Krieg möchte niemand erinnert werden, an politische Regime aus nachvollziehbaren Gründen ebenso (wobei brutalistische Bauten weder für das eine noch für das andere stehen). Muss man deshalb gleich ein paar Jahrhunderte zurück und so tun, als habe es die Zeit zwischen damals und 2017 einfach nicht gegeben?

Brutalismus polarisiert ganz offensichtlich: Fest stehe, so Elsner, dass brutalistische Bauwerke weitaus schneller für „Schrott“ und somit abrissreif oder zumindest weniger erhaltenswert erklärt würden als andere. Er selbst möchte keine Patentlösungen ausgeben, plädiert aber für einen kühlen Kopf: Erst einmal überlegen, was sich vielleicht mit der vorhandenen Bausubstanz machen und verändern ließe. Ob subjektive und ganz akute Vorstellungen von Schönheit überhaupt das Maß aller Dinge sein sollten. Immerhin stecke da eine Menge „Energie“ drin, und das wortwörtlich: Material, Arbeitskraft, Arbeitszeit. Und Geld.

Aktuell scheint der Zeitgeist den brutalistischen Bauwundern eher wieder ein wenig Aufwind zu verschaffen – allerdings weiß man eben, siehe oben, auch nie, wie nachhaltig der sein wird. Der Trellick Tower hat derlei nicht mehr nötig: Einst als sozialer Wohnungsbau nach Plänen von Ernő Goldfinger erbaut und viele Jahre als „Tower of Terror“ verschrien, in dessen Tiefgaragen und Aufzügen Vergewaltigungen und Überfälle an der Tagesordnung waren, blättern begeisterte Anhänger heute ordentliche Summen für ein kleines Apartment in dem inzwischen denkmalgeschützten Gebäude hin. Dieses Wahrzeichen brutalistischer Architektur ist ein gutes Beispiel dafür, dass gute oder desolate Wohnbedingungen eben nicht an einen Baustil geknüpft sind – nach massiven Protesten seiner Bewohner wurde der Trellick Tower mit verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet, die schnell für Besserung sorgten (zuvor gab es nicht mal einen Hausmeister). Wer einmal in London unterwegs ist, kann sich selbst von der majestätischen Präsenz dieses bei Regenwetter ziemlich finsteren Betonklotzes mit seinem festungsartigen Serviceturm überzeugen: Staunen über dieses architektonische Wunderding. Und dabei eventuell gar nicht mehr so wichtig finden, ob man dies nun schön nennen mag oder nicht.


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