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Look at me! Ludwig H. Jungnickel, Tierdarsteller

Der Künstler Ludwig H. Jungnickel entführt den Betrachter in eine Welt voller exotischer Tiere, Tennis im Grünen und modischer Dandys. Ein Porträt auf dem SCHIRN MAGAZIN.

Fieber­haft flirrt das Zick­zack vor den Augen. Oben und unten schla­gen weiße Linien auf schwar­zem Grund aus, verdich­ten sich zu einem großen Pouf, der ihr Muster aufnimmt und verdop­pelt und verdrei­facht, verdeckt durch eine Umkehr, Schwarz auf Weiß, Zick und Zack.

Aus den Kurven formt sich die Silhou­ette eines elegan­ten Dandys heraus, der ein Proto­typ sein könnte für die gut geklei­de­ten Herr­schaf­ten um die Jahr­hun­dert­wende: Aus dem umge­kehr­ten Zick­zack wird ein langer Mantel mit Taille, betont durch eine gekonnte Arm-in-die-Seite-Pose; die Beine über­ein­an­der­ge­schla­gen und die Körper­hal­tung gespannt, auch geis­tig alles auf Zack; Ziga­rette? Selbst­ver­ständ­lich!, lang und galant wie sein Herr, der sie in seiner Linken trägt, ange­win­kelt und abge­stützt; es blit­zen an modi­schen Fines­sen: grüne Socken aus den Schu­hen, ein mäch­ti­ges Collier vor dem aufge­stell­ten Kragen am Hals. Und ein langer, zause­li­ger Bart. Pelz­be­setzte Ohren. Zwei lange, sehr lange Hörner, rank und schlank und mit ihren zwei­far­bi­gen Ringeln fast aufge­hend im gezick­zack­ten Hinter­grund. Eines der viel­leicht groß­ar­tigs­ten Bilder in der aktu­el­len Ausstel­lung "Kunst für Alle": Es zeigt ausge­rech­net einen – recht human daher­kom­men­den, aber eben doch: – Ziegen­bock.

Schöp­fer des tieri­schen Dandys ist Ludwig Hein­rich Jung­ni­ckel, der öster­rei­chi­sche Maler und Illus­tra­tor, der sich in seinem Werk mindes­tens ebenso oft dem Tier wie dem Menschen widmete. Oder einer phan­tas­ti­schen Schnitt­menge aus beiden: Neben dem sendungs­be­wuss­ten Bock sind es vor allem die galant geklei­de­ten Gril­len, die als echte Fashion­vic­tims mit kunst­voll besetz­tem Schuh­werk, Rüschen, Pelz­kra­gen, Spazier­stö­cken und flat­tern­den Umhän­gen das beson­dere Faible von Jung­ni­ckel illus­trie­ren.

Die menschliche Faszination am Tier

Gebo­ren wird Ludwig H. Jung­ni­ckel 1881 in Wunsie­del. Freie- und Auftrags­ar­bei­ten, Bildende Kunst und Grafik verei­nen sich im Œuvre des Öster­rei­chers und lassen sich auch in seinen frühen Jahren kaum vonein­an­der tren­nen: In München besucht Jung­ni­ckel die dortige Kunst­ge­wer­be­schule, bald darauf verdient er sich mit seinem Bruder erstes Geld durch den Verkauf von Zeich­nun­gen an Touris­ten in Rom und noch­mals später ist man sogar im Vati­kan so von Jung­ni­ckels Werk begeis­tert, dass man dem jungen Talent eine Ausbil­dung zum Kirchen­ma­ler nahe­legt.

Seine tatsäch­li­che Passion soll aber in Wien auf den Weg gebracht werden: Hier wech­selte Ludwig J. Jung­ni­ckel mit einem Inter­mezzo in München zwischen Akade­mie und der Kunst­ge­wer­be­schule, mit nicht einmal 20 Jahren entwarf er für den bekann­ten Kölner Scho­ko­la­den­fa­bri­kan­ten Stoll­werck Sammel­mo­tive: Einen Fuchs in Karo und Pelz, und wie als Vorgriff: einen Stein­bock in, genau, Zick­zack­ge­wand. Tiere ziehen sich fortan als roter Faden durch seine Bilder, und auch, wenn nicht alle das mensch­li­che Mode­be­wusst­sein über­tref­fen, so strot­zen sie immer vor Üppig­keit: Präch­tige Papa­geien aus dem Tier­gar­ten Schön­brunn, zeternde Flamin­gos, gefähr­lich schöne Schwarze Panther. Selbst in den stär­ker an ihrer natür­li­chen Vorlage orien­tier­ten Moti­ven scheint Ludwig Jung­ni­ckels feines Gespür für die mensch­li­che Faszi­na­tion am Wesen Tier hervor, die jedes einzelne Blatt über die bloße Abbil­dung erhebt. Da ist jede Menge Bewe­gung und Dyna­mik, Panther fauchen und flet­schen die Zähne, Vögel halten ihren Kopf aus dem Bild heraus und schräg zum Betrach­ter: Look at me, ich schaue zurück!

Als Meis­ter seines Fachs erwei­tert Jung­ni­ckel die eige­nen Gren­zen der Grafik immer wieder, mit der Entwick­lung seiner Spritz­scha­blo­nen­tech­nik eröff­nen sich tech­nisch völlig neue Möglich­kei­ten. Das Ergeb­nis sieht aus wie ein heißer, flir­ren­der Sommer­tag mit seiner Schwe­be­par­ti­kel-schwan­ge­ren Luft: Neben Tier­por­träts fertigt der öster­rei­chi­sche Künst­ler so unter ande­rem ein Tennis­spiel mit Sport­le­rin­nen im weißen Kleid, die im Schat­ten der Bäume den Ball hin- und herflie­gen lassen, eine Wiese mit Arbei­tern oder einen Obst­gar­ten nahe einer Wald­lich­tung, in dessen Schat­ten mystisch und wild­ro­man­tisch die tolls­ten Farben aus dem Dunkel heraus­tre­ten. Die aufge­spritz­ten Schich­ten über­la­gern und über­lap­pen sich, ihre sicht­ba­ren Parti­kel verlei­hen den Bildern eine sanfte Träg­heit, die Kontu­ren verschwim­men gemäch­lich. Und, was die neue Tech­nik so span­nend macht: Es ist eine Grafik ohne die wich­tigs­ten Merk­male einer Grafik, ohne starre Kontu­ren und ohne Linien, die Formen erge­ben sich aus ihren Flächen.

Zu den berühm­tes­ten Werken Jung­ni­ckels gehö­ren aber die Kinder­zim­mer­friese, die er unter ande­rem für das Palais Stoclet in Brüs­sel entwarf – und die, wiederum in einer ande­ren Tech­nik gefer­tigt, zusam­men mit Spritz­scha­blo­nen­bil­dern und Holz­dru­cken das stilis­ti­sche Können Jung­ni­ckels bele­gen: Die tropi­sche Fülle wird hier mit einem Mini­mum an Farben und durch­weg grafi­schen Linien illus­triert; Nashorn, Gnus und Stein­bock, Tiger, Frösche und Schne­cken, Pfauen und exoti­sche Vögel liegen in einem Garten Eden zwischen Palmen, Kakteen und Sträu­chern versteckt.

Was auf eine kleine Metallplatte so draufpasst

Vom zwischen­zeit­li­chen Erfolg seiner Arbei­ten kann Ludwig Jung­ni­ckel, der trotz gemein­sa­mer Ausstel­lun­gen nie zur Wiener Seces­sion gehörte, nur eine Weile profi­tie­ren: Sein soge­nann­ter Arier­nach­weis wurde nicht weiter­ge­ge­ben, eine vermut­li­che Denun­zia­tion zwang ihn zur Ausreise, und die Gestapo räumte seine Wohnung. Im heute kroa­ti­schen Opatija versuchte er das, was ihm bereits als Jugend­li­chen ein biss­chen Geld einge­bracht hatte: Er verkaufte selbst ange­fer­tigte Zeich­nun­gen. In den 1950er-Jahren zog Jung­ni­ckel schließ­lich nach Öster­reich zurück, erst zehn Jahre später wieder nach Wien. Sein Atelier war in der Zwischen­zeit zerstört worden, und mit ihm etli­che Bilder aus der Zeit vor dem Zwei­ten Welt­krieg.

Was auf gülde­nen Schrift­ta­feln an ausge­wähl­ten Häusern über deren ehema­lige Bewoh­ner zu lesen ist, das klingt gern nach großen Leis­tun­gen oder drama­ti­schem Lebens­wan­del – wenn der Name eben jenes Bewoh­ners nicht allein schon welt­be­rühmt genug ist, dass sich jede weitere Erläu­te­rung erle­digt. Auf der Gedenk­ta­fel in der Grün­berg­straße 31 im 12. Wiener Bezirk steht aller­dings nur dies in Metall gemei­ßelt: In diesem Haus wirkte neben Egon Schiele „der Tier­dar­stel­ler Ludwig H. Jung­ni­ckel“, und etwas klei­ner darun­ter: bis 1940. Das ist natür­lich eine ziem­lich kesse Unter­trei­bung, aber ande­rer­seits: Wie sollte man Jung­ni­ckels Werk und Wirken sonst auf der Fläche einer klei­nen Metall­platte zusam­men­fas­sen? Ludwig H. Jung­ni­ckel, Tier­dar­stel­ler: Ja, aber was für einer!



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