Ja. Mit der Forderung, das Auslieferungsgesetz zurückzunehmen, begannen die großen Demonstrationen am 9. Juni. Hätte Carrie Lam das Gesetz damals direkt zurückgezogen, hätten die Proteste vermutlich schnell aufgehört. Doch in den mehr als drei Monaten seit Beginn der Proteste hat es viel Polizeigewalt gegeben: Polizisten nahmen Demonstrierende brutal fest, obwohl sie längst wehrlos am Boden lagen. Die Polizei griff nicht ein, als am 21. Juli Triaden brutal und willkürlich Leute in einer U-Bahn-Station angriffen. Sie riegelte eine U-Bahn-Station am 31. August komplett ab und griff Demonstrierende in der Station an. Die Bürgerinnen und Bürger fordern deshalb nun, die Gewalt aufzuarbeiten - das treibt die Proteste weiter an. Schon am 18. August protestierten nach Angaben der Organisatorinnen 1,7 Millionen Menschen gegen Polizeigewalt, das ist knapp ein Viertel der Bevölkerung Hongkongs. Einer der öffentlich bekannten Demonstranten, der Doktorand Brian Leung, schrieb am Mittwoch auf Twitter: "Jetzt aufzugeben, käme einer Akzeptanz dieses neuen Normalzustands der Repression gleich: Verhaftungswellen, Selbstmorde, Demonstrierende, die ins Exil fliehen, an Kriminelle ausgelagerte Staatsgewalt und schrankenlose Polizeibrutalität."
Schon seit Wochen haben die Demonstrierenden einen Slogan: "Fünf Forderungen und keine weniger." Die erste Forderung ist die komplette formale Rücknahme des Auslieferungsgesetzes. Diese Forderung ist erfüllt, sobald Lam wie am Mittwoch versprochen das Gesetz offiziell im Legislativrat zurücknimmt.
Die zweite Forderung ist eine unabhängige Kommission, um die Polizeigewalt der letzten drei Monate zu untersuchen. So soll die Polizei zur Verantwortung gezogen werden. Diese Forderung ist mittlerweile vermutlich die wichtigste, da Polizeigewalt einer der Hauptgründe der anhaltenden Demonstrationen ist.
Die dritte Forderung: Alle festgenommenen Demonstrierenden der letzten drei Monate freizulassen und ihnen alle Strafvorwürfe zu erlassen.
Die vierte Forderung: Die Proteste sollen nicht mehr als Aufstand bezeichnet werden. Der Grund dafür: Der Tatbestand "Teilnahme an einem Aufstand" steht seit der britischen Kolonialzeit im Hongkonger Gesetz und kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Die fünfte Forderung ist ein allgemeines Wahlrecht inklusive freier, demokratischer Wahlen, bei denen die Kandidatinnen nicht erst in Peking abgenickt werden müssen.
Nein. Die chinesischen Medien bezeichnen die Demonstrierenden immer wieder als Separatistinnen. Aber Unabhängigkeit ist keine Forderung der Bewegung.
Das kommt darauf an, um welche Forderung es geht. Nachdem sie sich monatelang geweigert hatte, hat Carrie Lam am Mittwoch angekündigt, auf die erste Forderung einzugehen und das Auslieferungsgesetz zurückzunehmen. Eine Totalamnestie für alle etwa 1.200 Festgenommenen ist eher unwahrscheinlich, ebenso wie die Rücknahme aller Anklagen wegen Teilnahme an einem Aufstand. Die Position der Regierung war bisher vor allem Härte gegenüber den Protestierenden. Diese Fälle werden sich in den kommenden Monaten und Jahren vermutlich durch das relativ unabhängige Hongkonger Rechtssystem arbeiten.
Warum die Regierung sich einer unabhängigen Untersuchung zur Polizeigewalt verweigert, ist nicht ganz klar. In einem geleakten Audioclip Ende August sagte Lam, der Grund sei starker Widerstand seitens der Polizei. Möglicherweise befürchtet sie, die Loyalität der Polizei zu verlieren, wenn sie der Forderung nachgibt. Doch auch ohne eine unabhängige Kommission wird die Regierung irgendetwas tun müssen, um das zerstörte Vertrauen zwischen Bevölkerung auf der einen und der Polizei und Regierung auf der anderen Seite wiederherzustellen. Hongkong besitzt eine Polizeiaufsichtsbehörde, die bereits eine Untersuchung in Gang gesetzt hat. Die Behörde kann allerdings keine rechtlich bindenden Verfahren abhalten, kann keine Zeugen vorladen und gilt als regierungstreu und voreingenommen.
Ein tatsächliches allgemeines Wahlrecht, bei dem nicht nur jede Person wählen, sondern auch kandidieren kann, ist sehr unwahrscheinlich. 2014 hatte die Regierung in Peking der Stadt eine Art abgespeckte Demokratie angeboten: Alle volljährigen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt sollten das Wahlrecht erhalten. Aber Kandidaten sollten weiterhin von Peking abgenickt werden. Dieses Angebot falscher Demokratie löste 2014 die Regenschirmproteste aus und wurde von den demokratischen Abgeordneten im Parlament abgelehnt. Dass Peking wegen der Proteste seine Meinung ändert und auf einmal echte freie Wahlen in der Stadt erlaubt, ist daher extrem unwahrscheinlich.
Nein. Wong ist eine der bekanntesten Personen der Demokratiebewegung in Hongkong. Doch er führt sie nicht an. Er spricht weiter mit ausländischen Medien, genau wie viele andere Personen in der Bewegung, doch das macht ihn nicht zu einer Führungsfigur. Es gibt keine einzelne Person oder kleine Gruppe von Personen, die offiziell für die Bewegung sprechen können oder Entscheidungen treffen. Das ist eine Lehre, die die Bewegung aus den Protesten im Jahr 2014 gezogen hat. Es ist für eine Bewegung gefährlich, einen Anführer zu haben, der für alles verantwortlich gemacht werden kann.
Die Bewegung ist dezentral und basisdemokratisch organisiert. Diskussionen finden auf einer Reihe von digitalen Plattformen statt, besonders der Messenger-App Telegram und im Reddit-ähnlichen Forum LIHKG. Jede Person kann sich an Diskussionen beteiligen oder Protestaktionen vorschlagen. Wenn andere Leute einen Beitrag gut finden, liken oder teilen sie ihn. Immer wieder gibt es auch Abstimmungen in den großen Diskussionsgruppen zu strategischen oder taktischen Entscheidungen - zum Beispiel, ob Leute einen Protest aus Sicherheitsgründen verlassen sollten oder welche Frist die Demonstrierenden der Regierung setzen sollen, ihre Forderungen zu erfüllen. Manche Gruppen organisieren Aktionen in bestimmten Stadtteilen, andere konzentrieren sich auf Bereiche wie Erste Hilfe oder Öffentlichkeitsarbeit. Jede Person kann mitmachen.
Zu Großteilen finanzieren sich die Demonstrierenden selber. Immer wieder gibt es Berichte, dass viele junge Hongkongerinnen kein Geld für Essen mehr hatten, weil sie ihre Ersparnisse komplett für Demoausrüstung ausgegeben haben. Chinesische Regierungsmedien werfen den Demonstrierenden immer wieder vor, sie würden von ausländischen Geheimdiensten finanziert und bezahlt. Um diese Vorwürfe zu untergraben, nehmen die Demonstrierenden nur Sachspenden an: Geschäfte spenden Getränke für Protestmärsche, Anwohnerinnen spenden T-Shirts, damit Leute auf dem Heimweg von einer Demo ihre schwarzen T-Shirts gegen unauffällige Kleidung tauschen können, oder Kleingeld und U-Bahn-Tickets, damit Demonstrierende nach Hause fahren können, ohne über ihre eigenen personalisierten Fahrkarten verfolgt zu werden. Wenn die Bewegung Geld braucht, zum Beispiel, um Anzeigen in internationalen Zeitungen zu schalten, greift sie auf Crowdfunding zurück. Es gibt einige wenige Organisationen, die Spenden annehmen, darunter der 612 Humanitarian Relief Fund, der dokumentiert, aus welchen Quellen er wie viele Spenden eingenommen hat und wie die Gelder ausgegeben werden. Die meisten Leute hat der Fonds bisher bei medizinischen Ausgaben, Kosten für Rechtshilfe und Kautionen nach einer Festnahme unterstützt.
Zum Teil. In den Medien gehen immer wieder dramatische Bilder von Demonstrierenden um, die Graffiti an Wände sprayen oder Molotowcocktails werfen. Besonders chinesische Regierungen stellen die Demonstrierenden ausschließlich als Randaliererinnen dar. Gewaltbereit ist vermutlich nur eine Minderheit, doch ein Prinzip der Bewegung ist, dass man einander unterstützt, solange alle das gleiche Ziel haben. Ein Großteil der Bewegung besteht aus friedlichen Protestmärschen und zivilem Ungehorsam, wie dem millionenstarken Protestmarsch am 18. August oder Protestaktionen, in denen Demonstrierende den Nahverkehr blockieren. Viele Demonstrierende versuchen auch, Konfrontationen zu vermeiden, indem sie nach Hause fahren, sobald die Polizei auftaucht oder vorrückt - das ist ein zentraler Bestandteil ihrer Strategie.
Wenn es Gewalt gibt, richtet sie sich oft gezielt gegen Gebäude, die in den Augen der Demonstrierenden für staatliche Repression stehen. Am 1. Juli stürmte beispielsweise eine Gruppe den Hongkonger Legislativrat, sprühte dort Graffiti und warf Fenster ein. Da die Bewegung führungslos ist, kann auch niemand Regeln vorgeben, wie sich andere zu verhalten haben, sodass es immer wieder zu Übergriffen kommt. Doch nachdem am Hongkonger Flughafen eine Menge aus Demonstrierenden einen Mann festsetzte und attackierte, den sie für einen Undercoverpolizisten hielt, gab es auch aus den eigenen Reihen viel Kritik. Wenn einzelne Demonstrierende zu aggressiv werden, sieht man in Videos von den Protesten vor Ort oft eine andere Person, die den aggressiven Demonstranten zur Seite zieht.
Als Teil der Proteste kommt es auch immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei, oft nach einem friedlichen Protest. Hier gibt es nach Monaten der Konfrontation auf beiden Seiten zunehmend weniger Hemmungen, Gewalt anzuwenden. Eine Recherche der New York Times ergab, dass die Polizei im Juni, anstatt Situationen zu entschärfen oder abzusichern, mit ihren Taktiken Eskalationen herbeiführe. Zahlen der Regierung zufolge wurden bisher 180 Polizistinnen im Rahmen der Proteste verletzt. Zahlen zu den Verletzten aufseiten der Demonstrierenden gibt es nicht.
Nachdem die friedlichen Proteste 2014 ohne Erfolge endeten, waren viele der Demonstrierenden desillusioniert - und haben aus den Erfahrungen geschlossen, dass sie mehr Druck auf die Regierung ausüben müssen, um etwas zu erreichen. Vorläufige Umfragedaten deuten darauf hin, dass viele der Demonstrierenden "radikalere" Methoden mittlerweile akzeptieren, auch wenn sie nicht selber daran teilnehmen. Zwischen 41 und 57 Prozent glauben, dass friedlicher Protest nichts mehr bringt, und zwischen 38 und 61 Prozent sagten, dass nur radikalere Proteste die Regierung dazu bringen können, den Demonstrierenden zuzuhören. Nur zwischen fünf und 26 Prozent lehnen die Aussage komplett ab. Radikalere Taktiken bedeutet dabei nicht unbedingt Gewalt - auch der stadtweite Streik am 5. August oder die Blockaden des Hongkonger Flughafens am 12. und 13. August zählten für viele Demonstrierende als Eskalation.
Selbst wenn die Aktivisten es ins Parlament schaffen würden, haben sie dort wenig Spielraum, Hongkonger Politik direkt zu gestalten: Nur die Regierung, die von Peking ernannt wird, kann Gesetze einbringen. Gleichzeitig sorgt das Wahlsystem dafür, dass Pro-Peking-Parteien eine Mehrheit im Parlament haben. Seit der Regenschirmbewegung haben auch einige jüngere Aktivistinnen und Aktivisten versucht, für den Hongkonger Legislativrat zu kandidieren, sind dabei jedoch auf Hürden gestoßen: Nathan Law, einer der prominenten Aktivisten der Regenschirmbewegung, der zusammen mit Joshua Wong die Partei Demosisto gründete, wurde sogar in den Legislativrat gewählt. Wenige Monate nach der Wahl wurde er jedoch zusammen mit fünf anderen Abgeordneten ausgeschlossen, weil sie ihren Amtseid als Gelegenheit für einen Protest gegen den Einfluss Chinas genutzt hatten. Agnes Chow, Mitglied von Demosisto, und Edward Leung, der sich explizit für die Hongkonger Unabhängigkeit einsetzt, durften beide nicht einmal kandieren. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden die Unabhängigkeit Hongkongs anstreben und somit das Grundgesetz der Stadt verleugne.