Julius Müller-Meiningen

Journalist - Reporter - Korrespondent, Rom

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Auf dem mystischen Hügel

Fünf Millionen Menschen pilgern jedes Jahr ans Grab des Heiligen Franz von Assisi, seit der Papstwahl werden es immer mehr.

Es ist ein Morgen, der sich zwischen Frühling und Sommer nicht recht entscheiden kann. Der Tag beginnt kühl. Der weiße Kalkstein der Häuser und Kirchen wird erst in ein paar Stunden leuchten, wenn die Sonne auf ihn scheint. Wie jede andere, hübsche Kleinstadt in Mittelitalien schlummert Assisi vor sich hin. Wären da nicht zwei beunruhigende Zeichen: Unerlässlich gurren die Tauben ihren einschläfernden Singsang, was in der Stadt des Vogelpredigers zwangsläufig aufhorchen lässt. Und wenn man in der Bar Trovellesi unter den Arkaden am Hauptplatz fragt, wo es denn zum Heiligen Konvent, dem Hauptkloster der Franziskaner geht, dann ruft die Frau am Tresen einen der beiden Stammtischbrüder gegenüber auf den Plan. „Francesco, wo ist der Konvent?“ Francesco weist dem Besucher den Weg.

Kaum ist man in Assisi angekommen, hat der Namensvetter des Wegweisenden, der Heilige Franz von Assisi, das ewige Match mit den Skeptikern dieser Welt bereits für sich entschieden. Obwohl er schon beinahe 800 Jahre nicht mehr lebt, ist dieser Heilige so überpräsent in seiner Geburtsstadt Assisi, dass man sich kaum vorstellen kann, wie etwa der Gemeinderat über so unterirdische Dinge wie Parkgaragen beraten kann. Das macht er aber offensichtlich, denn in Assisi ist zu sehen, dass sich auch das oft so improvisierende Italien teutonisch-generalstabsmäßig organisieren kann. Der Gast hat bei der Ankunft eine breite Auswahl an elegant im Berg versteckten Parkgaragen, wird dann beim Ausgang an den ersten Souvenirshops vorbei geschleust und beginnt seine Wallfahrt auf zwei Rolltreppen, die ihn gleichsam schwebend ins Stadtzentrum empor geleiten. Aus Lautsprechern dudelt Musik zu dieser Himmelfahrt. Es sind überraschenderweise keine Engelschöre, sondern die etwas klebrigen Hits von „Radio Subasio“.

Fünf Millionen Menschen pilgern jedes Jahr ans Grab von Franziskus in der Basilika von Assisi. Es ist noch keine vier Monate her, dass denselben Weg hinauf zur Kathedrale auch zwei Kardinäle zurücklegten. Am dritten März begegneten sich in Assisi zufällig der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn und der Erzbischof von Sao Paolo, Odilo Scherer. Beide galten als „papabile“, beide wollten, so hat es Schönborn erzählt, vor dem Konklave in Rom noch ein wenig Inspiration suchen beim Heiligen Franz. Im Gespräch der beiden kam dann die Frage auf, die sich nicht wenige in der Vergangenheit gestellt haben, warum sich eigentlich noch kein Papst den Namen des Poverello aus Assisi gegeben habe.

Zehn Tage später nannte sich Jorge Mario Bergoglio Franziskus, nach dem Heiligen Franz von Assisi. Vielleicht war dem neuen Papst gar nicht bewusst, welche Fallhöhe er sich und seinem Pontifikat mit diesem Namen gab. Denn Franz von Assisi rangiert ganz oben in der Hierarchie der Heiligen. Schon zu Lebzeiten faszinierte er viele Menschen, weil er in Armut, Demut und Schlichtheit lebte. Fünf Jahre vor seinem Tod zählte sein Orden bereits 3000 Mitglieder. Franziskus starb im Jahr 1226 und wurde schon zwei Jahre später heilig gesprochen, gleichzeitig begannen seine Anhänger mit der Errichtung der prächtigen Grabeskirche. Noch immer fasziniert seine Geschichte viele Menschen, auch Nicht-Gläubige, denn die Lebensart des Heiligen Franz hat den kulturellen Kodex des Abendlandes mitgeprägt. Sich Einsetzen für die Schwächeren, die Schöpfung bewahren. Das sind auch heute hochpolitische Themen. Sein Name ist für den Papst deshalb auch eine Hypothek.

In einer Zeit, in der das Papsttum für Macht, Korruption und Vetternwirtschaft stand, kehrte Franz von Assisi zu den christlichen Grundideen zurück, doch ohne dabei der Kirche den Rücken zu zuwenden. Dass sich im Jahr 2013 das Oberhaupt der in einer schweren Glaubwürdigkeitskrise befindlichen und von Skandalen geplagten katholischen Kirche den Namen dieses christlichen Revoluzzers gibt, ist deshalb entweder Leichtsinn oder ein faszinierendes Programm.

Man stellt sich vor, dass in Assisi am Abend der Papstwahl die Sektkorken knallten. Aber weil die Wahl Bergoglios so überraschend war, herrschte auch im Heiligen Konvent unterhalb der Basilika erst einmal Stille. Hier im Hauptkloster des Ordens leben die spirituellen Nachfahren des Heiligen Franz, die Minoriten oder minderen Brüder. Sie gehören zum Orden der Franziskaner, der heute insgesamt 30 000 Mitglieder hat. Bruder Thomas Freidel ist einer der 70 Minoriten des Konvents von Assisi. Er stammt aus Fußgönheim in der Pfalz, aus der unmittelbaren Nachbarschaft von Helmut Kohl, die aus jeder Silbe des Franziskaners herauszuhören ist. Seit fünf Jahren führt Bruder Thomas deutsche Pilgergruppen durch die auch kunsthistorisch so bedeutende Basilika in Assisi und erklärt anhand der weltberühmten Fresken Giottos das Wesen und Wirken seines Ordensgründers. Fra Tommaso, wie ihn seine Mitbrüder nennen, spricht kundig und flüssig, lässt sich aber nicht gerne unterbrechen. Doch am Abend der Papstwahl hatte es auch ihm vorübergehend die Sprache verschlagen. Er und vierzig andere Brüder saßen im Fernsehraum des Konvents. „Der eine hört nichts, der andere versteht nichts, der dritte redet rein“, so beschreibt der Franziskaner die Atmosphäre damals. Dass sich erstmals ein Papst Franziskus nannte, ging völlig unter.

Erst jetzt wird langsam klar, was geschehen ist. Nicht nur in Rom, auch in Assisi ist seit Bergoglio der Zulauf der Pilger extrem gestiegen. Überall im Ort prangt das Konterfei des neuen Pontifex, der am 4. Oktober das Grab des Heiligen Franz in Assisi besuchen wird. Bruder Thomas wird schon jetzt ein wenig mulmig zumute, wenn er daran denkt, was hier dann los sein wird. Die Gassen sind eng, der Platz vor dem Konvent ist auch nicht gerade enorm. „Wo sollen die ganzen Leute denn hin?“, fragt sich der Ordensmann. Mönch soll man ihn übrigens nicht nennen, das entspricht nicht dem Selbstverständnis der Minoriten. Sie verstehen sich ganz im Sinne des Heiligen Franz als einfache Seelsorger, die sich nicht in einem Kloster zur Besinnung verbarrikadieren, sondern sich der Welt und ihren Bedürfnissen zuwenden und das Evangelium verkünden. Zum Beispiel mit Führungen in der Basilika.

In seinem schwarzen, mit einem einfachen Strick zusammengehaltenen Habit blickt Bruder Thomas vom Konvent hinunter in die Ebene. Es ist ein prächtiger Blick, die ganze Geschichte des Heiligen Franz liegt da vor einem. Perugia ist am Horizont zu erahnen, wo der reiche Kaufmannssohn in Gefangenschaft geriet. Eine anschließende Identitätskrise führte ihn dann aus der Stadt hinunter zu den Aussätzigen in die damals noch sumpfige Ebene. Hier gründete Franziskus mit wenigen Gefährten seine Glaubensgemeinschaft, die Papst Innozenz III. 1209 anerkannte. Über die berühmte Porziuncula-Kapelle, den minimalistischen Sitz der Gemeinschaft, stülpten seine Verehrer Jahrhunderte später eine große Wallfahrtskirche, die ebenso wie die mächtige Grabeskirche im Ort nichts mehr mit der vielfach überlieferten Einfachheit des Heiligen zu tun hat.

Dass die Erben des Heiligen Franz sich von den Idealen ihres Gründers entfernt hätten, ist eine oft vorgebrachte Kritik. Bruder Thomas hakt hier pfälzisch-bestimmt ein. Franziskus habe eine religiöse Massenbewegung ausgelöst. Man solle sich mal überlegen, was heute für Tempel gebaut würden, Einkaufszentren und Fußballstadien. „Und in der Münchner Allianz Arena gibt es nicht einmal eine Kapelle!“, schimpft der Franziskaner. Der Ordensgründer wäre bestimmt zufrieden dass über sein Grab und die wunderbaren Fresken so viele Menschen den Weg zur Botschaft Gottes finden könnten, meint Freidel.

Das mag sein. Und wer immer noch Zweifel hat, dem sendet der Heilige Franz zum Schluss ein letztes Zeichen. Um Giottos Freskenzyklus in der Oberkirche der Basilika zu betrachten, muss man den Kopf nach oben strecken. Im Dachgebälk zwitschert es laut, dort haben sich die Schwalben eingenistet, was aus konservatorischer Sicht wohl problematisch ist. Den Vogelprediger und Freund der Schöpfung Franziskus hätte es hingegen bestimmt gefreut, dass an seinem Grab diese großartigen Segler den Touristen in waghalsigen Pirouetten über die Köpfe fliegen.