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Festung Australien - Wenn No-Covid den Horizont schrumpft

Australien ist annähernd Covid-19-frei. No-Covid - ein Traum, oder? Wie man's nimmt: Bei mehr als zehn Fällen pro Bundesland verordnen die Landesregierungen spontane Lockdowns. Der Kontinent ist abgeriegelt. Kaum ein Staat der Welt macht es seinen Einwohnern so schwer, das eigene Land zu verlassen. Dass ihre Grenzen ein weiteres Jahr geschlossen bleiben, erfuhren die Australierïnnen eher beiläufig. Wie lebt es sich in einem No-Covid-Land? Warum ist nicht jeder begeistert?


1 - Grenzen? - Bis Mitte 2022 dicht, mindestens

30.413 Coronavirusinfektionen gab es in Australien seit Pandemiebeginn, 910 Menschen starben, Ende Juni 2021 werden 44 an Covid-19 erkrankte Patientinnen und Patienten in Kliniken behandelt, keine/r davon wird beatmet oder liegt auf einer Intensivstation. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen im Kontinent liegt meist deutlich unter einem Dutzend und geht auf Ansteckungen von Rück- oder Einreisenden aus dem Ausland zurück. Schuld daran sind fast immer Mängel in der Quarantäne-Unterbringung, denn jeder, der einreisen darf, muss 14 Tage in ein staatlich zugewiesenes Quarantäne-Quartier - meist ohnehin leerstehende Hotels. Die allerdings sind Tourismusbetriebe und keine medizinischen Einrichtungen und haben reichlich Mängel. Klettern die Ansteckungen - wie derzeit in Sydney - in einen zweistelligen Bereich, greifen Lockdowns, Einschränkungen, und - klick klack klick - sperren die meisten anderen Bundesländer ihre Nachbarn aus. Die Staatsgrenzen sind eh dicht.

Im März 2020 schloss Australien seine Grenzen für den allgemeinen internationalen Reiseverkehr - und machte sie seither nicht wieder auf. Erst ab Mitte nächsten Jahres, so die Überlegungen des konservativen Regierungschefs Scott Morrison, könne man beginnen, das Ein- und Ausreiseverbot „zu überdenken". Eine offizielle Ankündigung oder öffentlich geführte Parlamentsdebatte gab es zu dem Thema nicht - der Termin sickerte im Mai eher beiläufig aus dem Entwurf für den Haushalt 2021/22: „Wenn Mitte 2022 die Grenzen öffnen ..." Gab es einen Aufschrei? Vielleicht von der Tourismusindustrie, die zu großen Teilen vom internationalen Besuchern abhängt? Nicht wirklich. Die Regierung verteilte neue Zuschüsse für Firmen, Spaß- und Essens-Gutscheine für die Bürgerïnnen und steckt weiter Millionen in ihre „Holiday here this year"-Kampagne. Was für eine Geldverschwendung: Wo sollen sie auch sonst Urlaub machen?


„Zwischen dem 25. März 2020 und 31. Mai 2021 erhielten 156.507 Australierïnnen und Permanent Residents (Einwohner mit ständiger Aufenthaltserlaubnis) eine Ausnahmegenehmigung, das Land zu verlassen", teilt ein Sprecher der Australian Border Force (ABF/Grenzbehörde) auf Anfrage mit. In der gleichen Zeit wurden 84.031 dieser Anträge das Land zu verlassen, abgelehnt. Zum Vergleich: im letzten Prä-Covid Gechäftsjahr 2018/2019 kamen 9,3 Millionen Ausländer nach Australien, 11 Millionen Einheimische reisten aus.

Neuseeländerinnen dürfen seit Mitte April wieder ohne Antrag, Impfung oder Quarantänepflicht nach Australien fliegen und die Australier zum ebenfalls Covid-freien Nachbarn. „Travel-Bubble" - Reiseblase - nennt die sonst eher traurige Tourismusbranche das Pendeln zwischen den beiden weitgehend Covid-"sicheren" Ländern. Den Kiwis dürfte die Blase eine finanziell weniger katastrophale Ski-Saison bescheren. Die mehr als 500.000 in Australien lebenden Neuseeländer können ihre Verwandtschaft auf der anderen Seite der Tasmansee wieder besuchen. Für den Rest der multikulturellen Bevölkerung bleibt Australien eine Festung. Die Juristin und frühere Diplomatin Natasha Kassam macht sich in The Conversation über die wirtschaftlichen und ethischen Folgen des „Fortress Australia" Gedanken, unter anderem fürchtet sie, dass Australien riskiert, den Anschluss zu verlieren während der Rest der Welt geimpft wird und zur Normalität zurückkehrt. Eine ihrer Statistiken dürfte viele Deutsche überraschen: 95 Prozent der Australier sagten Anfang Mai, ihre Regierung habe die Covid-Krise gut gemeistert. 41 Prozent der Bevölkerung sind auch mit den Reisebeschränkungen einverstanden, 40 Prozent finden, Geimpfte sollten reisen dürfen, nur 18 Prozent lehnen die Festungslage ab.

Unter den weniger Begeisterten dürften vor allem die 30 Prozent Australier mit Wurzeln im Ausland sein, die noch ein weiteres Jahr ihre Verwandtschaft nicht sehen, Taufen, Hochzeiten, Geburten und letzte Lebensmomente sterbender Eltern verpassen. Und jene, deren eher globale Jobs ihren Arbeitsalltag durch die Auflagen irre teuer machen. Universitäten fehlen Hundertausende ausländischer Studenten, Fachkräfte kommen nicht ins Land, das Obst bleibt wegen fehlender Backpacker auf den Bäumen, die Migration stagniert.


2 - Quarantäne - zwei Wochen im Straf-Hotel

Wer eine Ausreisegenehmigung bekommt, einen Flug ergattert und wieder zurückkommen möchte, muss gut betucht sein. Denn teuer ist die Grenzlage natürlich auch. Zumal für jene, die sie hin und wieder zu überwinden versuchen. Nadine Helmi, gebürtige Mainzerin, die seit über 30 Jahren in Australien lebt, war gerade in Deutschland, als die Pandemie losging. Im September 2020 versuchte sie zum ersten Mal zurück in ihre Wahlheimat zu fliegen. Diverse stornierte Flüge, Registrierungen für Rückholflüge und zwei Hotel-Quarantänewochen später war sie im Januar 2021 schließlich wieder in Sydney. One-Way-Economy-Ticket und Quarantäne kosteten sie insgesamt über 8.000 australische Dollar (5.000 €). „Das kann sich wirklich nicht jeder leisten", sagt die Deutschlehrerin, die nicht einmal das Geld am ärgerlichsten fand und die sogar mit der Tatsache, zwei Wochen das Hotelfenster nicht öffnen zu können zurecht kam.

„Das Schlimmste war die Unsicherheit", erzählt die 65-Jährige, die vor allem zurückflog, weil ihr Sohn in Australien lebt. „Von der Regierung gab es keinerlei Information", sagt Helmi, sie hat jegliches Vertrauen in Australiens Politiker verloren. „In Deutschland hatte ich das Gefühl in einem progressiven Land zu leben", sagt sie, die Situation in der Wahlheimat hält sie für das genaue Gegenteil. „Die einzigen Infos fand ich auf diversen Facebook-Gruppen von anderen Ein- und Ausreisewilligen." Gruppen wie „ Travel Ban/Excemption " (Reisebann & Ausnahmegenehmigungen) haben nach wie vor über 11.000 Mitglieder. Sie unterstützen einander im oft frustrierenden und bürokratischen Labyrinth zur Sondergenehmigung aus „humanitären Gründen". „Seinerzeit aus der Sovjetunion in den Westen zu gelangen, war einfacher", schreibt ein Forist.


3 - Lockdowns

Wer Covid eleminieren will, darf keine Fälle haben. Insofern werden in australischen Großstädten rote Flaggen geschwenkt, sobald ein Virus aus der Quarantäne in die Bevölkerung entwischt. Melbourne beendete im Oktober 2020 den wohl härtesten und längsten bekannten strikten Lockdown von 112 Tagen. Im Mai machte Victorias Hauptstadt erneut für zwei Wochen dicht. Nun ist Sydney an der Reihe, nachdem es Mitte Juni mehrere Dutzend neue Ansteckungen registriert wurden: Am 25. Juni gab es 22 neue Coronavirusfälle in New South Wales und zwei in Queensland. „Holiday here this year" bedeutet daher für zigtausende Schulkinder aus Sydney zum Beginn der Winterferien: daheim in den eigenen vier Wänden spielen - Sydney ist „Hotspot", im Lockdown und seine Einwohner sind weder in den Skigebieten noch an Queenslands Stränden oder in Neuseeland willkommen. „Es gibt Schlimmeres", sagt eine Mutter von drei Kindern aus Bondi, und natürlich hat sie Recht.

Besorgniserregend ist eher, dass kein Plan erkennbar ist, wie Australien aus der selbstgeschaffenen Isolation je wieder herauskommen will, ganz zu schweigen vom Erreichen einer Herdenimmunität.


4 - Impfungen

Australien hat spät (Ende Februar) begonnen zu Impfen, und es geht nach wie vor schleppend voran. Ende Juni haben 2,8 Prozent der Erwachsenen vollen Impfschutz, knapp 24 Prozent haben eine Dosis bekommen. Die Zeitlupe hat mehrere Gründe: Zunächst war wenig Impfstoff vorhanden, vor allem AstraZeneca zu bestellen, erwies sich ebenfalls nicht als clever. Inzwischen bekommen den Wirkstoff aus Oxford nur noch über 60-Jährige, freie Auswahl gibt es nicht. Zugleich lässt die weitgehende Abwesenheit von Erkrankungen den Schrecken verblassen: Die überwältigende Mehrheit der Australierïnnen ist mit Covid-19 nie direkt in Berührung gekommen. Den letzten Coronatoten gab es im April, den letzten Todesfall davor gab es im Dezember. Der Alltag ist weitgehend normal, viele hatten - mit Ausnahme von Sydney in dieser Woche - seit Monaten keine Maske in der Hand. Gastronomie, Kinos, Theater sind fast überall längst zur Tagesordnung übergegangen, wenn auch mit reduzierten Besucherzahlen. Den Alltag behindern allein die beliebten spontanen Lockdowns (siehe oben). In Melbourne führte der Mai-Lockdown immerhin zu einem leichten Anstieg der Impflust, andernorts nicht.

Nur ein Drittel alle Australierinnen und Australier will sich einer Umfrage von Ende Mai zufolge impfen lassen, das sind nicht viele und auf dem Weg zur Herdenimmunität nicht genug. Denn ein weiteres Drittel will sich auf jeden Fall nicht impfen lassen, der Rest ist unentschlossen. Radikale Impfgegnerïnnen machen nur etwa 4 Prozent der Impfunwilligen aus. Ein größerer Teil sorgt sich um Nebenwirkungen, 21 Prozent sagen, da die Grenzen eh dicht sind und bleiben, macht eine Impfung im Lucky Country ja keinen Sinn.


5 - Australier im Ausland

"Australien kehrt zu seinen Ursprüngen als Gefängniskolonie zurück", kommentiert Ben M., ein australischer Jurist und Fotograf, der seit acht Jahren in Berlin lebt und sagt: "Bürgerliche Freiheiten sind zum Fenster hinausgeworfen worden, staatliche Inkompetenz ist die neue Normalität und „geschlossen" reflektiert nicht nur den Zustand der Grenzen, sondern auch der Mentalität, die diesen peinlichen Entwicklungen zugrunde liegt." Der 47-Jährige hätte auch neidisch sein können auf sein annähernd virusfreies Heimatland: Der athletische Radler und Marathonschwimmer erkrankte selbst im Dezember 2020 in Deutschland schwer an Covid-19, lag beatmet auf der Intensivstation in Friedrichshain und erholte sich in den Wochen danach nur langsam. Nach Australien sehnt er sich trotzdem nicht: „Kombiniert man das Verhalten der Regierung in Bezug auf Covid mit ihrer ständigen Anbiederung an die Kohlelobby, dann ist es für Viele in Europa klar, dass Australien zu einer Lachnummer geworden ist", liefert er einen Blick von Außen auf seine Heimat, die sich selbst gerne stolz als „ envy of the world " (von aller Welt beneidet) lobt. „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich nicht mehr stolz darauf, mich Australier zu nennen."

Allein ist der Exil-Australier mit seiner kritischen Einschätzung nicht. Eine Gruppe von Soziologen der Universität von Western Australia hat herausgefunden, das die Werte der Australierinnen sich in der Zeit der Pandemie verändert haben: "Wir kümmern uns weniger um andere, sind konservativer und weniger gewillt zu spenden", heißt es in der Studie.

Bezeichnend allerdings ist, dass mahnende Stimmen zu der Situation vor allem aus dem Ausland kommen: Korrespondentin Latika Bourke, die für den Sydney Morning Herald und Melbournes The Age immer wieder über Grenzkonflikte, gestrandete Australier und das Problem der Isolation schreibt, sitzt in London. Ihr und vielen anderen Beobachtern fehlt erkennbares Planen für eine Wiederöffnung des Landes: „Wenn Australien nicht ein Einsiedlerkönigreich bleiben will, muss es anfangen, aktiv für die nächste Stufe zu planen, in der wir uns der Welt öffnen", leitartikelt der Sydney Morning Herald am 11. Juni.

Ein Gruppe von Wissenschaftlern, Juristinnen und CEOs hat an der Universität Sydney im Mai eine „Roadmap for Re-opening" - einen Fahrplan zur Wiedereröffnung des Landes veröffentlicht. Vielleicht findet Regierungschef Morrison, derzeit nach seiner Reise zum G7-Gipfel in Europa, in heimischer Isolation ja Zeit, das Dokument zu lesen. Er musste nicht ins Hotel, sondern darf in seiner Canberra-Residenz The Lodge die 14 Quarantänetage verbringen.

Erschienen  am 16. Juni im 2021 Im Magazin  Riffreporter - Weitere Riffreporter-Beiträge in den „AustralienStories"

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