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Mit Autorin Sarah Schmidt durch Melbourne

Vor den viktorianischen Säulen der Staatsbibliothek schieben zwei Teenager kniehohe Schachfiguren übers Pflaster. Studenten liegen im Gras, ein Straßenmusiker testet seine Gitarre. Sarah Schmidt tritt aus dem denkmalgeschützten Gebäude ins Freie und setzt die Sonnenbrille auf. "Natürlich sind die Lesesäle und seltenen Bücher drinnen ein Schatz", sagt sie. Oft genug hat die Autorin hier Material studiert und geschrieben. "Aber dieser Vorplatz ist der eigentliche Grund, warum die Bibliothek für mich das Herz von Melbourne ist. Er war immer ein Treffpunkt, ein Ort für Versammlungen und Proteste", erzählt Sarah Schmidt, die seit über 25 Jahren in Australiens zweitgrößter Stadt lebt. "Als hier 2003 Melbournes größte Anti-Kriegsdemo startete, explodierte die Innenstadt fast vor Menschen."


An diesem heißen Morgen in der letzten Ferienwoche wacht Victorias Hauptstadt gerade erst auf. Gläserne Wolkenkratzer zeigen wie schlanke Finger in den blauen Himmel. Angestellte ver schwinden mit Kaffeebechern in den Aufzugschächten der Büros, durch offene Ladentüren kühlen Klimaanlagen die Fußwege gleich mit. Im Seitenflügel der Bibliothek stärken wir uns bei "Mr Tulk" mit Espresso und Avocado-Toast. "Hier sitzt immer irgendein Schriftsteller", sagt Sarah und schaut sich diskret in dem weiß getünchten Café um, heute erfüllt die blonde Australierin selbst die Quote.


Ihr Debüt "Seht, was ich getan habe" erschien Anfang 2018. Ein eindringlich beklemmender Roman, der von einem Mordfall erzählt, der sich 1892 in Massachusetts ereignete. Mit einer Axt wurde das Ehepaar Borden erschlagen und deren Tochter Lizzie der Tat verdächtigt. Zugleich erzählt er von einer Familie, der die Liebe abhanden gekommen ist, von Zwängen, Neurosen und Brutalität.


Dass ihr Werk heute in den Buchläden steht, scheint die 38-Jährige mit Hang fürs Schaurige fast selbst zu überraschen. "Ich habe 16 Fassungen geschrieben", sagt sie. Neben der Arbeit an dem Manuskript war sie Bibliothekarin, wurde Mutter und zog mindestens ein halbes Dutzend Mal innerhalb Melbournes um.


"Wo immer ich hingehe, fast überall erinnert mich etwas an einen Moment oder eine Phase meines Lebens" , sagt sie. Wir laufen durch das Labyrinth aus alten und neuen Gebäuden von Schmidts einstiger Universität. Das Royal Melbourne Institute of Technology - eine von den acht Unis der Stadt - war Ende des 19. Jahrhunderts zunächst ein Kolleg für Arbeiter. Hinter Türmen und Zinnen des Altbaus drängeln sich Melbournes Glasfassaden der 1980er und Architektur, die Recycling und erneuerbare Technologien kombiniert. Die Uni liegt mitten im CBD, dem Central Business District, in dem mitnichten nur Geschäfte gemacht werden.


Fast ein Viertel der 4,5 Millionen Einwohner leben in oder nahe der City. Schmale Gassen beleben Espressoduft und Restaurants, Platanen und Eukalyptusbäume säumen breitere Straßen. Über Designerläden, Galerien und Restaurants türmen sich außer Büros auch Studentenwohnungen, Hotels und Apartments. Während Sydney oder Perth nach Büroschluss weitgehend aussterben, ist Melbourne bis in die Morgenstunden wach.

Ein paar Blocks südlich der Bibliothek bereiten sich asiatische Garküchen auf den Ansturm hungriger Mittagsgäste vor. Die älteste Chinatown des Westens entstand während Australiens Goldrausch in den 1850ern, ein Museum, historische Gebäude und chinesische Apotheken erinnern noch daran. Vor allem aber locken die Düfte asiatischer Küchen in die Little Bourke Street. "Shanghai Street Dumplings sind die Rettung in jeder zu langen Nacht", verrät Schmidt. "Vor allem wenn man von einem Studenten-Budget lebt."


Melbourne wurde 1835 als Grid angelegt - ein geometrisches Gitter von Gassen und Straßen. Letztere sind so breit, dass zwischen Radfahrern, Autos und Bussen noch Platz genug für die unermüdlich bimmelnden Straßenbahnen ist. Den ratternden Trams, aber auch der Kunstszene, Bauten wie der fast 150-jährigen Town Hall, viktorianischen Kirchen und den feucht-kühlen Wintern verdankt Melbourne den Ruf, "Australiens europäischste Stadt" zu sein.

In der Bourke Street schauen wir zwischen Straßencafés und Kunst-Graffiti in Sarah Schmidts Lieblingsbuchladen Hill of Content. "Die Auswahl ist erstklassig", sagt die Autorin und gesteht: "An einem Tag bin ich mit 15 Büchern hier rausgegangen."

Ums Eck thront das Princess Theater mit Kuppeln und Bleiglasfenstern im Second-Empire-Stil. Schmidt liebt die Musicals, die dort gespielt werden, zugleich bedient es ihre Gothic-Neigungen - in dem opulent verzierten Gebäude spukt Federici, der Geist eines Mephisto-Darstellers, der auf der Bühne starb.


Vorbei am griechischen Viertel schlendern wir ins einstige Arbeiter- und heutige Trendviertel Carlton - einem weiteren Grund für Melbournes europäischen Ruf. In der Lygon Street herrscht ab mittags zwischen Pizzerien, Cafés und italienischen Restaurants das fröhliche Treiben einer Piazza. Hier wurde Australiens Leidenschaft für Espresso und Latte macchiato geboren.

Unter schmiedeeisernen Balustraden laufen wir Slalom zwischen Kellnern, die Spaghetti über den Gehweg balancieren. "Durch diese Gerüche bin ich früher jeden Abend nach Hause gegangen", erzählt Sarah, die damals allerdings statt Scaloppine Studentenkost aß. Natürlich kennt sie außer den Lokalen die gruseligen Geschichten des Viertels.

In der Dorrit Street wurde 1949 ein Mord begangen, für den Jean Lee als letzte Australierin zum Tode verurteilt wurde.

"Ihren" Mordfall entdeckte Schmidt in einem Secondhandladen ganz in der Nähe. "Ich hatte nie von der Geschichte gehört, aber seit mir dort ein Text über den berühmten Axtmord in die Hand fiel, träumte ich von Lizzie Borden - jede Nacht!" Sarah Schmidt stoppt vor einer Reihe zweistöckiger Terrassenhäuser, am Haus Nummer 401 zeigt sie auf einen schmiedeeisernen Balkon. "Da oben habe ich begonnen, Lizzies Geschichte aufzuschreiben, zunächst vor allem um mich von den Alpträumen zu befreien", sagt sie. Ein langer Prozess. "Das ist jetzt über elf Jahre her!"


Eine Stadt, zwei Welten

Es ist 32 Grad, trockene Hitze, keine Brise. Wir steigen in die Tram 96, die das Trendviertel East Brunswick mit dem Strandvorort St. Kilda im Süden verbindet - und zugleich zwei Welten trennt. Im Norden prägen kleine Mode-Ateliers, Designer-Werkstätten, vegane Märkte, Yoga-Studios und eine endlose Auswahl an Cafés, Kneipen und Restaurants die Szeneviertel Fitzroy, Brunswick und Carlton. Sechs Kilometer südlich der City säumen Palmen Strand und Promenaden, prägen Jachten, Jogger und Seebrise Melbournes exklusiven Freiluftspielplatz am Wasser.

"Einmal bin ich auf Drängen von Freunden bis zur Endstation St. Kilda gefahren, direkt bis an die Bucht." Sarah Schmidt macht ein Gesicht, als sei das eine Art Mutprobe, dann lacht sie: "Als ich ankam, bin ich sofort wieder umgedreht." Die schwerelose Seichtigkeit des Strandvororts ist eindeutig nicht ihr Fall.


Stattdessen steigen wir gleich hinter dem Yarra-Fluss wieder aus der Bahn. Über eine riesige Glaswand strömt ein endloser Wasserfall, dahinter hängen die Schätze der National Gallery of Victoria, Australiens größter öffentlicher Kunstgalerie. "Wenn ich beim Schreiben stecken bleibe, wandere ich hier vorbei an den Gemälden, bis mich irgendein Bild fasziniert. Manchmal schaue ich es stundenlang an, bis etwas klick macht und ich weiterschreiben kann." Wir schlendern durch die kühlen Säle der Galerie, die vor Besuchern wimmeln.


Gegenüber spenden die Baumriesen des Botanischen Gartens Schatten, in Cafés am Ufer erholen sich Zuschauer der Australian Open. Das Tennisturnier hat die Stadt noch ein wenig voller gemacht als üblich. "Aber in Melbourne läuft ständig ein Festival oder Sportereignis", sagt Sarah Schmidt. Sie mag das, solange ein Platz in einem ihrer Lieblingslokale frei bleibt. Zurück im quirligen Fitzroy lassen wir den Tag bei "Marios" ausklingen.

An den Wänden hängen Zeichnungen von Künstlern aus dem Viertel, die Pasta schmeckt nach Süditalien, die Leuchtreklame erinnert an die 80er.


Vor großen Fenstern zieht Melbournes multikulturelle Jugend vorbei. Gegenüber malt die Abendsonne die blätternde Fassade der Eckkneipe rosa an. "Stadtplaner denken sich ja gern was Neues aus", sagt Sarah Schmidt und erzählt von der Southbank, einem Reißbrettviertel am Fluss, in dem gerade das höchste Gebäude der Südhalbkugel in den Himmel wächst. "Mir sind organisch gewachsene Nachbarschaften lieber. Aber davon hat Melbourne zum Glück ja immer noch eine ganze Menge."


Melbourne: 10 Insider-Tipps von Sarah Schmidt Hotel Lindrum. Mitten in der Stadt mit Blick auf den botanischen Garten, luxuriös-moderne Zimmer hinter historischer Fassade. Der Service ist so aufmerksam, dass man sich fühlt wie der einzige Gast. DZ ab 130 Euro, 26 Flinders Street, City, Tel.0061/396681111. www.hotellindrum.com.au Erleben State Library, Mr. Tulk. Riesige historische Bibliothek mit Lesesälen, gutem Buchladen und Café. 328 Swanston Street/Ecke La Trobe, City Café Mo-Do 7-17, Fr bis 21 Uhr, Sa/So 9 bis 16 Uhr. www.mrtulk.com.au Hill of Content Book- shop Erstklassiger Buchladen auf zwei Etagen mit kundigen Buchhändlern und guter Auswahl. 86 Bourke Street, City, Tel. 0061/3 96 62 94 72. hillofcontentbookshop.com Trades Hall & International Bookshop. Historisches Gewerkschaftshaus mit bemaltem Foyer und interessantem Secondhandbuchladen im Souterrain. Gegenüber erinnert die 8-Stunden-Säule an den Sieg von Melbournes Steinmetzen, die 1856 den 8-Stunden-Tag erkämpften. 54 Victoria St./Lygon, Carlton. https://nibs.org.au Princess Theatre. Prächtiger Theaterbau von 1853 mit opulenten Dekorationen und hauseigenem Geist: Seit 1888 spukt Federici, der als Mephistopheles auf der Bühne starb. Gespielt werden vor allem Musicals. 163 Spring Street, Melbourne. marrinergroup.com.au/venues/princess-theatre Royal Botanic Gardens 39 Hektar großer Park und botanische Sammlung mit Pfanzen aus aller Welt im Herzen der Stadt am Yarra-Fluss. Birdwood Avenue, City. www.rbg.vic.gov.au National Gallery of Victoria. Australiens ältestes Kunstmuseum mit vorzüglicher Sammlung internationaler, moderner Kunst sowie Sonderausstellungen. NGVs australische Kunst und Aboriginal Art ist gegenüber im Ian Potter Centre, Federation Square. Eintritt frei. 180 St. Kilda Road, Tel. 0061/3 86 20 22 22. www.ngv.vic.gov.au Bars und Restaurants Milk the Cow. In der lang gestreckten Bar gibt's vorzügliche Weine und dazu die Qual der Wahl zwischen 180 Käsesorten aus aller Welt. Tägl. ab 12 Uhr. 323 Lygon Street, Carlton, Tel. 0061/3 95 37 22 25. milkthecow.com.au Supernormal. Asiatisch inspirierte, feine Gerichte zu Wein, Sake, Whisky oder Cocktails. Unvermeidlich: die New England Lobster Roll auf hausgemachter Brioche. Faire Preise, tägl. ab 11 Uhr.180 Flinders Lane, Tel. 0061/3 96 50 86 88 supernormal.net.au/supernormal Marios. Kult-Italiener mit vorzüglicher Pasta und herzhafter Frühstücks- karte. Pause machen und Fitzroys Straßenleben an großen Fenstern vorbeiziehen lassen. 303 Brunswick Street, Fitzroy, Tel. 0061/3 94173343. www.marioscafe.com.au  Zum Original