4 Abos und 12 Abonnenten
Artikel

Wandern am Wasser

Steile Klippen, einsame Strände, gleich dahinter Regenwald: Der Great Ocean Walk führt zu Stellen, die nur zu Fuß erreichbar sind.
„Selten habe ich eine Küste gesehen, die mehr Furcht einflößt“, schrieb einst Kapitän Matthew Flinders . Es war im Jahr 1801, als sich der 26-jährige Brite den Kalksteinklippen näherte, die heute zum Bundesstaat Victoria gehören. Mit der „Investigator“ umsegelte er als Erster den Kontinent, zeichnete eine vollständige See- und Küstenkarte – und setzte sich 1824 mit seinem Vorschlag durch, das neue Land nicht mehr Terra Australis‚ sondern schlicht Australia zu nennen.

Von Land aus, mit festem Boden unter den Füßen, wirken die Felsen nicht ganz so bedrohlich. Aber am Ausguck über die Bucht von Castle Cove wird uns klar, wie kühn ein Seefahrer navigieren musste, wenn er sich der zerklüfteten Küste nähern wollte. Mehr als 80 Großsegler haben dabei Schiffbruch erlitten, daher trägt sie den Beinamen Shipwreck Coast. „Die Siedler hier lebten oft von Vorräten, die aus Wracks an Land gespült wurden“, erzählt unsere Wanderführerin Marie Killeen. Die Ex-Lehrerin aus Melbourne ist Anfang 50 und trägt einen dicken Zopf. Sie ist zwar kleiner als wir alle, schleppt jedoch den mit Abstand größten Rucksack. Eigentlich wandere ich ja am liebsten auf eigene Faust, mit Zelt und querfeldein. Marie Killeen von der Bothfeet Lodge am Great Ocean Walk scheint aber entschlossen, mich auf neue Wege zu führen.

In der Bothfeet Lodge, aus Recyclingholz und Wellblech erbaut, hat sie unsere Gruppe ausgerüstet. Wir bekamen Rucksackhüllen und Müsliriegel, Stulpen als Schutz vor Schlangenbissen, Netze gegen Fliegen und Jacken gegen Regen, dazu Trillerpfeifen für den Fall, dass wir verloren gehen sollten. 

Die asphaltierte Nachbarin unserer Route, die berühmte Great Ocean Road, verläuft trotz ihres Namens oft ein ganzes Stück landeinwärts. Auf dem gut 90 Kilometer langen Great Ocean Walk hingegen haben wir fast immer das Wasser im Blick. Victorias längster Fernwanderweg windet sich zwischen Apollo Bay und den „Zwölf Aposteln“ zu Klippen, Buchten und Naturschutzgebieten. Er führt über Strände, die nur Schiffbrüchige je betreten haben, durch stillen Regenwald und Täler, die nur zu Fuß erreichbar sind.

„Eine Hyazinth-Orchidee!“, ruft Killeen und zeigt auf eine filigrane Blüte, die zwischen alten Eukalypten leuchtet. Die feuchte Talsenke, in der diese rosafarbene Blume gedeiht, wirkt wie ein botanischer Garten. Wir sehen blaue Buschlilien und weiße australische Fuchsien. Nadelscharfes Grün sprießt aus dem knorrigen Stamm eines Grasbaums. „Ein Meter hoch“, schätzt unsere Führerin, also rund hundert Jahre alt. Pro Jahr lege so ein Gewächs nur einen Zentimeter zu. 

Der Regen wird stärker, wir ziehen unsere Jacken über. Kaum eine halbe Stunde später haben wir blauen Himmel, also packen wir den Regenschutz wieder ein. Sonne und Wolken wechseln sich nun ständig ab, das Meer verändert rasch seine Farbe. „Jenseits von Cape Otway liegt die ‚sanfte Seite’“, sagt Killeen und zeigt nach Osten auf eine Landzunge, die eine Art Wetterscheide bildet und von einem alten Leuchtturm markiert wird. Wir sind auf der westlichen, der „wilden Seite“ unterwegs.

Manche Autofahrer fahren die Great Ocean Road an einem Tag ab. Wanderer brauchen für ihre Tour etwa eine Woche. Wer näher herangeht, statt alles sehen zu wollen, wer kleine Schritte macht, statt Kilometer zu fressen, erlebt meist deutlich mehr. Zudem muss gar nicht jede Etappe erlaufen werden. Wer wie wir mit Führer geht, pickt sich die spektakulärsten Abschnitte heraus – und wird an vereinbarten Stellen abgeholt.

Im Hinterland des Nationalparks Great Otway, in dem mächtige Eukalyptusbäume stehen, treffen wir die junge Ökologin Anna O’Brien. „Das hier ist wie eine Schatzsuche“, sagt sie, schiebt ihre Sonnenbrille ins kurze Haar und die Hände in die Taschen ihrer Jeans. Man wisse nie ganz genau, was gerade geblüht habe und nun brauchbare Samen hervorbringe. Als wolle sie ihre Worte bekräftigen, klopft sie auf ihre leeren Plastikeimer. 

Die Bothfeet Lodge kooperiert seit 2010 auf einigen Routen mit lokalen Gruppen der Umweltorganisationen Landcare und Conservation Volunteers Australia. Gäste können ein oder zwei Wanderetappen auslassen und stattdessen an Naturschutzprojekten mitarbeiten. Wir zum Beispiel haben am Vortag in den Dünen störende Pflanzen entfernt, und jetzt schütteln wir einen schlanken Baumstamm, bis rote Beeren auf unsere Köpfe hageln. In einer Plane sammeln wir die kleinen Prickly-Currant-Früchte – Saatgut, mit dem O’Brien und ihr Team andere Gebiete renaturieren. Zwei Stunden später haben wir auch noch Eimer mit Maulbeersaat und seltenen Ölbaumfrüchten gefüllt. „Ihr dürft gern wiederkommen“, sagt O’Brien. Wir nicken glücklich, denn wir haben ein Dutzend neue Pflanzen kennengelernt – und zugleich das Gefühl, nicht nur uns, sondern auch der Natur etwas Gutes getan zu haben.
Die Bothfeet Lodge bietet keinen direkten Meerblick wie die Zeltplätze an der Wanderstrecke. Sie liegt ein paar Kilometer landeinwärts, nicht weit vom Johanna-Strand. Er ist nach einem havarierten Zweimaster benannt, dessen Jungfernfahrt 1843 hier endete. Wir kriegen eine Ahnung, welches Wetter das Ende des Schiffs wohl beschleunigt hat. In der Nacht prasselt der Regen auf die Wellblechdächer, als hätte jemand die ganze Lodge unter einen Wasserfall geschoben. 64 Liter pro Quadratmeter gehen nieder, ein Drittel mehr als sonst im ganzen Monat. Das ist selbst für eine der feuchtesten Regionen von Victoria eine stattliche Menge – und für mich ein schlagendes Argument gegen Nächte unter freiem Himmel.

Am folgenden Morgen stapfen wir durchs Küstengrün, das dank der nächtlichen Dusche wie frisch gewaschen wirkt. Der Duft von wildem Rosmarin mischt sich mit der salzigen Seebrise. Ein Keilschwanzadler kreist majestätisch über dem Ufer, und im schulterhohen Busch flöten Vögel, die wir nie zu Gesicht bekommen. 

Urplötzlich schieben sich Victorias kalksteinerne Wahrzeichen aus dem Dunst. Der Blick auf die „Zwölf Apostel“ ist zugleich das Ende unserer Trekkingroute. Etwa zwei Kilometer vor den berühmten Säulen hört sie abrupt auf. „Wahrscheinlich führt sie ganz bewusst nicht bis zur Aussichtsplattform“, sagt unsere Führerin grinsend und legt ihren Rucksack ab. „So können sich Wanderer darauf vorbereiten, dass sie nun nicht mehr allein sind mit sich und der Natur.“ Die Apostel sind in der Tat dicht umlagert. Sie sind die mit Abstand am meisten fotografierten Küstenfelsen. Majestätisch ragen die Zinnen aus der Brandung.

Alle paar Jahrzehnte allerdings stürzt einer der Türme, geschwächt von Wellen und Witterung, ins Wasser. So sind diese Apostel – Name hin, Name her – längst keine zwölf mehr an der Zahl. Mit Sicherheit ist auch das ein Grund, weshalb sie nicht mehr so furchterregend wirken wie zu Zeiten von Kapitän Flinders. Und weshalb dessen Karten, die lange Zeit als Meisterwerk der Präzision galten, heute nicht mehr so genau stimmen.