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Gäste-WC: Der stillste Ort der Sehnsucht

Dass es sie gibt oder sie im Gegenteil sehr fehlt, merkt man eigentlich erst, wenn wirklich mal Gäste da sind. Wenn die eigene Behausung zur Herberge nicht nur für einen selbst, sondern auch für andere wird und sich der Blick darauf verändert, weil eine Außenperspektive dazukommt: Wie sieht es denn hier aus? Und warum gibt es da in vielen Einfamilienhäusern und manchen geräumigen Stadtwohnungen diesen einen Raum meist in der Nähe des Eingangs, den die Bewohner selbst kaum je betreten: die Gästetoilette?

Als Kind tat ich es zum Beispiel jedoch recht häufig, immer wenn die Eltern weg waren. Dann benutzten meine Schwester und ich heimlich die Gästetoilette (wobei in der Abwesenheit anderer etwas ja im Grunde nicht heimlich geschieht; Heimlichkeit ist die Umgehung tendenziell Anwesender). In dem Raum roch es elegant nach dem Seifenarrangement, das die Mutter nach Urlauben in der Bretagne fortlaufend weiter bestückt hat - die Provenienz von Seife bietet ebenso Anlass für sentimentale Erinnerung, wie sie fast zwangsläufig ein Ausdruck der sozialen und kulturellen Selbstverortung ist. Auch Seife hat in der Gästetoilette eben eine repräsentative Bedeutung.


Wie romantisch es in diesem kleinen Raum aber auch aussah! Die sanitäre Keramik war, ganz anders als im schnöden eierschalenweißen Badezimmer, in tiefem Nachtblau gehalten; das breite Waschbecken hing tief; und die Wände waren gefliest, anders als im Badezimmer, das tapeziert war - weil das Gäste-WC oft nur ein zwei bis drei Quadratmeter großer Raum ist, muss bei den Fliesen ja nicht gespart werden. Hatten sich dann Gäste angekündigt, wurde auf dem gläsernen Beistelltischchen Der Ewige Brunnen: Ein Hausbuch deutscher Dichtung zurechtgerückt und der hölzerne Vorsatz des Spiegels, auf dem die in gerafftes Papier verpackten Seifchen lagen, rasch noch einmal gewischt. Gästen, das merkte man als Kind des Hauses und eben gelegentliche klandestine Gästetoilettenbesucherin, wurde besondere Aufmerksamkeit zuteil.


Die Gästetoilette, ein statistisches Mysterium

Bei späteren Besuchen von Gäste-WCs in anderen Wohnungen und Häusern lernte ich diese Orte als Versorgungsstationen für Notfälle jeder Art (neben der Verrichtung der Notdurft) wertzuschätzen. Da lagen dann Deo und Tampons bereit, oft ein Kamm und, wenn es richtig gut lief, vielleicht sogar Handcreme. Als Erwachsene versteht man dann auch, dass man sich das Vorhandensein einer Gästetoilette erst verdienen muss, indem man sich eine entsprechend große Wohnung oder gar ein Haus leisten kann, die oder das überhaupt über einen solchen Raum verfügt. Lädt man im Gegensatz dazu Menschen zu sich ein in die überschaubare eigene Behausung, ist dies einstweilen noch mit der Selbstaufforderung verbunden, mal wieder das eigene Badezimmer zu putzen.

Herauszufinden, ob die Gästetoilette als solche eine bedrohte architektonische Art ist (und die eigenen sentimentalen Empfindungen also Anlass zur Klage böten) oder ob sie im Gegenteil heute selbstverständlicher Bestandteil von Neubauten sowohl von Ein- wie auch Mehrfamilienhäusern ist in Deutschland - das ist gar nicht so leicht. Kontaktiert man Architektinnen und Architekten, etwa Karen Romberg vom Berliner Architekturbüro a-base, so werden einem schönerweise zunächst auch persönliche Erinnerungen erzählt: Die Gästetoilette muss also etwas Bemerkenswertes an sich haben. Sie selbst, schreibt Romberg in einer E-Mail, sei während der Sechzigerjahre in einem Hamburger Vorort aufgewachsen und der elterliche Handwerksbetrieb habe genug abgeworfen, um den Eltern im eigenen Haus den damaligen Luxus eines Gäste-WCs sowie eines Kinder- und eines Elternbads zu erlauben. "In der Stadt war das immer schon ein wenig anders", so Romberg. Das reine Gäste-WC sei dort eher selten, "häufiger wird zusätzlich eine Dusche eingebaut, um ein vollwertiges zweites Bad zu haben". Über belastbare Zahlen verfüge sie bei dem Thema aber nicht.


Das geht auch der Bundesarchitektenkammer so, in der die Berufsgruppe organisiert ist. Die Architektenkammer verweist einen an die Bundesstiftung Baukultur, die alle zwei Jahre den Baukulturbericht veröffentlicht, den Statusbericht zum Planen und Bauen in Deutschland. Die dort für die Pressearbeit zuständige Mitarbeiterin schreibt per E-Mail, sie sei bei einer internen Recherche leider auch auf keine Zahlen in Sachen Gästetoilette gestoßen. Einigkeit herrsche im Kreis der Kolleginnen und Kollegen jedoch darüber, dass das Gäste-WC als Raum "mittlerweile in jedem Einfamilienhaus Standard ist".


Das galt zumindest in der Vergangenheit eigentlich nur für Westdeutschland. Die staatlich verordneten Plattenbausysteme in der DDR sahen in fast keiner Grundrissvariante eine Gästetoilette vor, bei der Einheitsplatte WBS 70 etwa in keiner der Ein- bis Fünfraumwohnungen; beim Typ QP 64 war erst in der Fünfzimmervariante neben dem Bad eine zweite Toilette vorgesehen. Und die Altbauten, etwa im Ostteil von Berlin, blieben bis zur Wende oft noch auf ihrem Vorkriegsklostand: halbe Treppe. (...)

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