Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine nie dagewesene Katastrophe über Japan hereinbrach. Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit bebte die Erde vor der Nordostküste des Landes. Auf dem Meeresgrund, in mehreren Kilometern Tiefe, riss die Erdkruste über eine Länge von 400 Kilometern auf. Dadurch verlagerte sich der Boden an einigen Stellen um bis zu 27 Meter. Das Beben hatte eine Stärke von 9,0 auf der Richterskala - und ist damit das stärkste, das je in Japan gemessen wurde.
Es löste einen Tsunami aus, dessen bis zu 40 Meter hohe Wellen mehr als 500 Kilometer Küste überfluteten, Autos und Häuser einfach mitrissen. Die Wassermassen trafen auch auf das Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi. Das Erdbeben hatte zu dem Zeitpunkt bereits die Leitungen zerstört, das Wasser ließ die Notstromversorgung zu großen Teilen ausfallen. In drei der sechs Reaktoren kam es zu einer Kernschmelze. Große Mengen radioaktiver Stoffe wurden freigesetzt, aus den umliegenden Gebieten mussten in den Tagen danach etwa 170.000 Menschen evakuiert werden. Auf der internationalen Skala für atomare Störfalle wurde Fukushima als katastrophaler Unfall eingeordnet - das ist die höchstmögliche Kategorie. Damit ist Fukushima nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 der zweite GAU weltweit.
Schwieriger Wiederaufbau
Die Dreifach-Katastrophe mit Erdbeben, Tsunami und Nuklearunfall ist bisher einmalig - nicht nur in Japan, sondern weltweit. Fast 20.000 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 2500 Personen gelten immer noch als vermisst. Etwa 470.000 Menschen wurden evakuiert. An den Folgen des Unglücks - etwa durch Erschöpfung oder die Verschlechterung von Krankheitsverläufen infolge der Evakuierung - starben bislang mehr als 2200 Menschen.
Der 11. März 2011 hat nicht nur das Leben der Betroffenen dramatisch verändert. Ebenso mussten Politik und Forschung Antworten auf diese Katastrophe finden. „Japan ist sehr erfahren mit dem Wiederaufbau nach Erdbeben, es gibt dafür zahlreiche politische und gesetzliche Regelungen. Aber das Desaster von 2011 war jenseits der vorhandenen Erfahrungen", sagt Elizabeth Maly. Sie arbeitet im International Research Institute of Disaster Science (Irides) an der Tohoku Universität in der nordost-japanischen Stadt Sendai. Das interdisziplinäre Institut wurde 2012 als Reaktion auf die Ereignisse 2011 gegründet.
Elizabeth Maly ist Architektin und forscht zum Wiederaufbau nach Katastrophen. Sie untersucht, wie es Menschen in ihrem neuen Zuhause geht und welche Probleme sich etwa durch Umsiedlung ergeben. Den Angaben der japanischen Wiederaufbauagentur zufolge galten im Januar 2019 noch 53.000 Menschen als Evakuierte. Einige Hundert von ihnen leben immer noch in Containerdörfern oder in extra zur Verfügung gestellten Apartments. Ein Teil der als nicht mehr evakuiert geltenden Menschen hat mittlerweile eine eigene Unterkunft gefunden oder ist in die Heimat zurückgekehrt.
„Normalerweise basiert Japans Planung für einen Wiederaufbau darauf, die Stadt oder das Haus an dem Ort wiederzuerrichten, wo es vorher stand", sagt Maly. „Aber in Fukushima gibt es Gebiete, in die Menschen wahrscheinlich nie wieder zurückkehren können. Einige Gegenden sind zu stark radioaktiv verseucht. Mit dieser Situation gibt es keinerlei Erfahrungen." Noch dazu seien Städte, ländliche Gebiete und Fischergemeinschaften in zahlreichen Kommunen unterschiedlich stark von den Ereignissen in Mitleidenschaft gezogen worden. „Einige Regionen sind besonders von Erdbeben oder dem Tsunami betroffen gewesen, andere besonders von Radioaktivität." Das sei auch mit Blick auf die Bedürfnisse der Menschen kompliziert.
Viele persönliche TragödienÄhnlich beschreiben Toshiyuki Takeuchi und seine Frau Emiko Fujioka die Situation. Das Ehepaar gründete 2011 die Hilfsorganisation Fukushima on the Globe. Sie informieren mit Broschüren und auf ihrer Website über die Folgen des Nuklearunfalls, vernetzen sich mit anderen international tätigen Organisationen und bringen diese mit lokalen Initiativen in Fukushima zusammen. Takeuchi und Fujioka berichten von vielen persönlichen Tragödien der Betroffenen durch die große Katastrophe.
„Viele Menschen, die evakuiert wurden, lebten von Landwirtschaft und Fischfang. Doch das konnten sie ja nicht weitermachen", sagt Emiko Fujioka. Die Landwirte, die zurückgekehrt seien, hätten große Probleme, ihre Produkte zu verkaufen. Die Evakuierten mussten also nicht nur eine Unterkunft finden, sondern sich auch einen neuen Job suchen - und darüber hinaus sozial völlig neu anfangen. Besonders für ältere Menschen sei es schwer gewesen, die Orte aufzugeben, an denen sie seit vielen Jahren und meist mit ihren Kindern und Enkelkindern gemeinsam gelebt haben, berichtet Fujioka. Nachbarschaften wurden auseinandergerissen, nicht wenige Menschen wurden nach der Evakuierung einsam und krank. Fujioka sagt, dass der Bedarf an psychologischer Unterstützung hoch sei. Aber nicht alle, die Unterstützung bräuchten, bekämen diese auch.
„Psychologische Betreuung in Japan hat nicht den Stellenwert wie in Deutschland, obwohl es mittlerweile einige Angebote gibt", sagt Julia Gerster. Die Japanologin hat ihre Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin über die sozialen Dynamiken nach der Dreifach-Katastrophe verfasst. Seit Januar forscht sie nun wie Elizabeth Maly am Irides. Julia Gerster führte zahlreiche Interviews mit Betroffenen. „Ich habe die Evakuierten nach dem Erlebten gefragt, und nicht selten haben sie angefangen zu weinen", berichtet sie. Einige hätte zuvor selten oder sogar nie darüber gesprochen. In der japanischen Kultur sei es wichtig, nach vorn zu blicken. Viele Betroffene fühlten sich dadurch unter Druck gesetzt.
Hinzu kommt, dass viele Menschen nicht offen darüber sprechen, dass sie Evakuierte sind. „Sie haben Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung", berichtet Julia Gerster. Es gebe Vorurteile und Gerüchte, die sich hartnäckig halten. „Zum Beispiel, dass die Evakuierten Strahlung verbreiten oder Frauen keine gesunden Kinder mehr bekommen könnten." Zudem gebe es Neid, denn einige Menschen denken, die Evakuierten hätten sehr hohe Entschädigungszahlungen erhalten. „Dabei kommt es auf viele Faktoren an, die über die Höhe der Summe entscheiden - etwa in welcher Kommune die Menschen vorher gelebt haben", sagt die Japanologin.
Große Proteste und viel Engagement
Nach dem Unglück vor acht Jahren entwickelten sich aber auch große Hilfsbereitschaft und ziviles Engagement. „Nach dem Desaster gab es eine große Bürgerbewegung. In Fukushima City demonstrierten viele Menschen gegen Atomenergie", berichtet Emiko Fujioka. Auch in anderen Städten des Landes protestierten über Monate Tausende Atomkraftgegner. Im Juli 2012 waren es in Tokio einem Bericht der Japan Times zufolge etwa 170.000 Teilnehmer.
Diese Protestbewegung war nicht nur spontan, sondern hatte überraschend viele Teilnehmer - wenn auch immer noch wenige im Vergleich zur Einwohnerzahl des Landes, schreibt das Deutsche Institut für Japanstudien in einer vor fünf Jahren veröffentlichten Studie. Vor dem 11. März 2011, so die Autoren, habe es keine Protestkultur gegeben, diese sei in den 70er-Jahren praktisch zum Erliegen gekommen. Dennoch habe es eine Art unsichtbare Zivilgesellschaft gegeben, die mobilisiert wurde. Außerdem engagierten sich einige Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben auf diese Weise. Der Studie zufolge wurden die Demonstranten angetrieben von Misstrauen, Wut und Unsicherheit. Immerhin galt Atomenergie über viele Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung als sicher.
Erholungscamps für KinderDoch viele Japaner demonstrierten nicht nur, sondern engagierten sich in lokalen und regionalen Initiativen. Beispielsweise gründeten Mütter, die sich um ihre Kinder sorgten, landesweit Netzwerke, um sich auszutauschen und andere über die Gefahren von Strahlung zu informieren. Zudem wurden in angrenzenden Präfekturen Fukushimas sogenannte Refresh Camps eingerichtet. Dort können sich Mütter und ihre Kinder, die sonst in Gegenden mit erhöhten Strahlungswerten leben, für einige Wochen erholen. Das Prinzip ähnelt den Erholungsorten für Kinder in Deutschland, die nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl gegründet wurden.
Citizen-Science-Netzwerk für Strahlungsmessung
Kurz nach der Dreifach-Katastrophe entstand außerdem das Citizen-Science-Netzwerk Safecast, mit dem die Menschen begannen, die Strahlung in den betroffenen Gebieten selbst zu messen. Denn die Messungen der staatlichen Stellen wurden als missverständlich und lückenhaft empfunden. Bis heute ist das Netzwerk aktiv. Safecast stellt nach einer Schulung den Interessierten vereinfachte Geigerzähler zur Verfügung, die sich für etwa eine Minute in das GPS-Netz einwählen und die gemessenen Daten speichern. Vom heimischen Computer werden die Daten an das Netzwerk geschickt und zu einer interaktiven Karte hinzugefügt, die online abrufbar ist. Safecast konnte eine rege Beteiligung verbuchen. Wie das mittlerweile internationale Netzwerk berichtete, waren Ende 2016 in der Datenbank 50 Millionen Messungen verzeichnet, etwa 70 Prozent davon aus Japan.
Doch wie steht es heute um die radioaktiv belasteten Gebiete? Dem Umweltministerium zufolge waren die Arbeiten zur Dekontaminierung im März 2017 in elf Kommunen abgeschlossen. Dafür wurden beispielsweise Dächer und Fassaden mit Hochdruckreinigern gereinigt und zum Teil per Hand geschrubbt, Laub aufgesammelt und die obere Erdschicht in Gärten und Wäldern abgetragen. Damit wurde zwar die Strahlungsrate gesenkt, allerdings lässt sich damit nicht alles dekontaminieren. In der Region gibt es beispielsweise bewaldete Hügel.
Nach den Dekontaminierungsarbeiten wurde die Evakuierungsanordnung in den vergangenen Jahren für viele Gebiete nach und nach aufgehoben. Nicht selten sind aber nur einzelne Zonen in den Dörfern und Städten wieder freigegeben. Es gibt Zonen, in denen Menschen wieder leben dürfen, Zonen, die bald wieder bewohnbar sein sollen, und Zonen, in die eine Rückkehr in absehbarer Zeit schwierig ist.
Demnach stünde der Rückkehr der Bewohner zumindest teilweise nichts im Wege. Doch kommen sie tatsächlich wieder? Die Stadt Namie, vier Kilometer vom AKW Fukushima-Daiichi entfernt, hatte vor dem 11. März 2011 ungefähr 18.000 Einwohner, heute leben dort offiziellen Angaben zufolge 896 Menschen. „Aber diese Zahl kann irreführend sein, denn es ist nicht klar, wer wirklich wieder in der Stadt wohnt", sagt Julia Gerster. „Einige Menschen haben ihre Adresse zwar geändert, leben aber nicht dort, oder sind nur tagsüber da und verbringen die Nacht woanders." Ein Grund für die Adressänderung sei Nostalgie, ein weiterer, dass bestimmte Hilfsleistungen an den Wohnort geknüpft sind.
Meist sind es ältere Menschen, die in ihre Dörfer zurückkehren. „Junge Familien mit Kindern bleiben oftmals an den Orten, an denen sie sich ein neues Leben aufgebaut haben. Kinder sollen nicht oder nicht noch einmal aus ihrer Umgebung gerissen werden", sagt die Forscherin. Außerdem haben sie nun ein anderes Bewusstsein für die Strahlungsbelastung. Besonders junge Familien wollen lieber weit weg vom Unfallort wohnen.
Für neues Land wurden Berge abgetragenZusätzlich zur Dekontaminierung wurde bis 2018 daran gearbeitet, neue Grundstücke für die Evakuierten bereitzustellen. „Dafür wurden Berge abgetragen, Land geebnet und Straßen gebaut. Die Menschen konnten sich entscheiden, ob sie das Grundstück kaufen oder mieten. Den Hausbau mussten sie selbst bezahlen", erläutert Elizabeth Maly. Allerdings liegen heute viele dieser Grundstücke brach. Verwunderlich ist das nicht. „Viele Evakuierte wollten nicht sieben Jahre warten, um durch das Projekt Land zu bekommen - vor allem wenn sie jung sind und genug Einkommen haben. Sie haben durch eigene Initiative Grundstücke gefunden und Häuser gebaut." Die Forscherin sieht durch diese künstlichen Wohngebiete auch neue Schwierigkeiten erwachsen: Es wurden nur Wohnhäuser gebaut - doch wie integriert man Läden, Schulen, die Versorgung älterer Menschen? In anderen Orten sind diese Strukturen verwaist, weil sich nur wenige Menschen wieder angesiedelt haben.
„Die Dörfer in der Tohoku-Region sind nicht dicht besiedelt", sagt Julia Gerster. Die Häuser liegen vereinzelt inmitten von Reisfeldern. Viele Anwesen stehen leer. Das soziale Gefüge, die Nachbarn, die Gemeinschaft gibt es nicht mehr. Die wenigen Rückkehrer leben oft einsam und isoliert. „Nach dem starken Erdbeben in Kobe 1995 gab es eine hohe Zahl an sogenannten Solitary Deaths, also Verstorbene, deren Tod man erst viel später bemerkte", sagt Julia Gerster. Eine ähnliche Entwicklung wird auch in der Region Fukushima befürchtet.
Der Nuklearunfall und seine Folgen haben eine ohnehin schon gravierende Entwicklung beschleunigt: den Bevölkerungsrückgang in ländlichen Gebieten. Es gebe viele politische Bestrebungen, sagt Maly, die Städte vor allem für junge Leute attraktiv zu machen. „Allerdings geht es nicht mehr darum, mehr Einwohner zu gewinnen, sondern den rapiden Rückgang aufzuhalten." Es geht um ein neues Konzepte für Städte und darum, wie man einen Weg finden kann, eine Stadt lebenswert zu machen.
Bemühungen um ein hoffnungsvolles NarrativDie Präfektur Fukushima hat zum Beispiel einen Innovationsplan auf den Weg gebracht, um die Wirtschaft in den strahlenbelasteten Gebieten wieder anzukurbeln, und setzt dabei vor allem auf Forschung und Technologie. In der Kleinstadt Tomioka etwa, die einst 16.000 Einwohner hatte und im Juni 2018 gerade einmal 660 Personen zählte, hat sich ein neues Forschungsinstitut angesiedelt. Dessen Mitarbeiter befassen sich intensiv mit Atomenergie, der Stilllegung von Atomkraftwerken und mit der Wiederbelebung der Umwelt. In anderen Städten entstehen ebenfalls wissenschaftliche Einrichtungen und sogar ein Roboter-Testgelände, auf dem die Maschinen für Notfall-Einsätze trainiert werden. Zudem nutzen jetzt viele Regionen Solarzellen oder investieren in Smart Cities.
Zugleich bemüht sich die Politik, der Katastrophe etwas Positives abzugewinnen und ein hoffnungsvolles Narrativ zu finden. „Schon länger wird daran gearbeitet, den Namen Fukushima wieder positiv zu besetzen", sagt Julia Gerster. So will die Region sich landesweit als Vorläufer etablieren bei der Frage, wie man auf Abwanderung, Überalterung und die vielen leerstehenden Häuser reagiert - und was man dagegen tun kann. Denn auch viele andere ländliche Regionen Japans werden in absehbarer Zeit vor diesen Problemen stehen. Doch für die Präfektur Fukushima geht es vor allem darum, einen Weg zu finden, das Erlebte zu überwinden.
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