"Stranger Things" war Netflix' größter Überraschungserfolg. Die zweite Staffel bietet noch mehr Achtziger-Nostalgie. Und ein Grauen, fürchterlicher als das eigentliche Monster.
Eigentlich dürfte diese Serie nicht funktionieren. Hätte nie funktionieren dürfen, nicht in der ersten Staffel, und schon gar nicht jetzt, in der zweiten. Man muss sich nur eine der ersten Szenen aus den neuen Folgen von Stranger Things anschauen, um die Unmöglichkeit dieser ganzen Sache zu begreifen: Ein Parkplatz, vor einer Schule im Mittleren Westen der USA, es ist das Jahr 1984. Nancy und Steve, die Highschool-Sweethearts aus der ersten Staffel, beschwören im Auto ihre Liebe. Dann kommt der Bruch: Motorenröhren, Gitarrenjaulen, Reifenquietschen. Ein neues Auto auf dem Parkplatz, aus den Boxen dröhnen die Scorpions. Die Kamera sucht das Nummernschild (Kalifornien, ein Fremder!), sie gleitet zur Fahrertür, immer noch in der Nahaufnahme. Tür auf, ein schwerer Stiefel trifft den Asphalt. Die Kamera gleitet nach oben. Jeanshose, Jeansjacke, Vokuhila. Jetzt, endlich, setzt der Gesang ein: "Here I am/ Rock you like a hurricane". Und die Highschool-Mädels kauen Kaugummi, spielen mit ihren Haaren und fragen sich: "Wer ist dieser Typ?"
Wenn man das aufschreibt, klingt es nur halb so klischeehaft, wie es ist. Man hat diese Bilder schon tausendmal gesehen, die Geschichten schon tausendmal gehört, in Filmen, in Büchern, in Serien. Man weiß ganz genau, wofür sie stehen, was sie vermitteln sollen: Ein neuer Typ ist in der Stadt. Und dieser Typ bedeutet Ärger. In dieser kurzen Sequenz steckt die Essenz von Stranger Things: eine Ansammlung von Klischees und Standardsituationen, von Zitaten und Verweisen, zusammengehalten von einer großen Portion Nostalgie.
Und doch ist Stranger Things der größte Überraschungserfolg von Streamingdienst und Serienproduzent Netflix geworden, nein, vielleicht sogar der ganzen Branche. Diese Geschichte von Mike, Will, Dustin, Lucas und Eleven, vier nerdigen Jungs und einem telekinetisch begabten Mädchen, die Comicbücher lieben und Rollenspiele, und die sich plötzlich in einer großen Verschwörung wiederfinden. Als die erste Staffel im vergangenen Sommer anlief, drehten die Leute durch. Man sagt das ja so leicht, und meistens stimmt es nicht, aber hier trifft es zu: Die Leuten drehten durch. Twitter wurde überflutet mit Adoptionswünschen für die Jungschauspieler. #JusticeForBarb forderte Gerechtigkeit für eine Fan-Favoritin. In Chicago eröffnete eine Stranger-Things-Bar. Die Kids waren plötzlich überall. Bei Jimmy Fallon, bei den Golden Globes, bei MTV. Alles, was sie taten, wurde zur Schlagzeile: Eleven-Darstellerin Millie Bobby Brown rappt Nicki Minaj. Finn Wolfhard, der Mike spielt, feuert seinen Agenten - als Reaktion auf den Weinstein-Skandal.
Nostalgie ist ein wahnsinnig mächtiges Gefühl, sie kann ganze Leben verschlingenIn Zeiten hyperindividualisierter Mediennutzung ist Stranger Things einer dieser extrem selten gewordenen Fälle von Lagerfeuer-Fernsehen. Wer mitreden will, ach was, wer Popkultur verstehen will, der muss diese Serie gesehen haben. Aber wie konnte diese aus Highschool-Filmen, Stephen-King-Büchern und Steven-Spielberg-Blockbustern zusammengebastelte Mystery-Geschichte so groß werden? Und warum ist diese Serie trotzdem so verdammt gut? Das fragt man am besten die beiden Männer, die sie geschaffen haben.
Die Duffer-Brüder sind für ein Telefoninterview aus L.A. zugeschaltet und das stellt einen schon gleich vor ein kleines Problem. Matt und Ross Duffer sind nämlich Zwillinge, ihre Stimmen quasi nicht zu unterscheiden. Man ist also gezwungen, sie als Einheit wahrzunehmen: Die Duffer-Brüder sagen, die Duffer-Brüder lachen, die Duffer-Brüder wollen. Dass das so falsch gar nicht ist, merkt man, wenn man sich ein paar Interviews mit den beiden anschaut. Wie sie gegenseitig ihre Sätze vervollständigen, wie ein Gedanke aus zwei Mündern spricht. Und auch im vor John-Carpenter-Synthies brodelnden Intro der Serie steht schlicht: "Created by The Duffer Brothers". Also, liebe Duffer-Brüder, wieso funktioniert das mit diesen ganzen Klischees so gut? "Weil wir nichts ironisch meinen", sagen sie. Alles müsse sich anfühlen, als sei es wahrhaftig und echt.
Man sieht das noch besser in der zweiten Staffel, die in Sachen Nostalgie noch einmal zugelegt hat. Die Musik aus den Radios, die Filmankündigungen an den alten Kinofassaden, die Ghostbusters-Kostüme an Halloween. Das alles sind keine Zitate der Zitate wegen, es gibt kein wissendes, dekonstruktivistisches Augenzwinkern. Hinter der nostalgischen Verspieltheit dieses Klischeefests steckt vor allem: großer Ernst. Es ist 1984, und für diese Jungs sind die Ghostbusters nun einmal gerade die Allergrößten. Das ist die erste Meisterleistung der Duffer-Brüder.
Nostalgie ist ein wahnsinnig mächtiges Gefühl, sie kann ganze Leben verschlingen. Sie kann aber auch Karrieren erschaffen. Gerade hat eine Welle warmer Gefühle für die eigene Kindheit die Stephen-King-Verfilmung Es an die Spitze der Kinocharts getragen. Der erfolgreichste Horrorfilm aller Zeiten. Dass Stranger Things also von einem Publikum geliebt wird, dass sich an Spielautomaten, an den Spielzeug-Millennium-Falken und an He-Man erinnern kann, ist klar. Aber die Serie wird auch von Menschen gefeiert, die die Achtzigerjahre nie erlebt haben. "Wir waren die letzte Generation, die ohne Smartphones aufgewachsen ist", sagen die Duffer-Brüder, selbst Jahrgang 1984. So großartig diese Technologie auch sei, die jungen Menschen von heute spürten den Reiz dieser Prä-Internet-Welt. Die Sehnsucht nach den Achtzigern als generationenübergreifendes Verlangen nach einem einfacheren Leben? Das mag vielleicht in Teilen stimmen, aber das erklärt nicht alles. Die wahre Sogkraft von Stranger Things liegt in der großen Geschichte, die die Serie erzählt. Und das ist die zweite Meisterleistung der Duffer-Brüder.
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