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Paula darf leben

Die Füße kann man schon erkennen und die kleine Nase hebt sich spitz vom Gesicht ab. Aufmerksam beobachtet Barbara Fischbacher den Bildschirm, durch den sie in das Innere ihres Körpers blickt. Sie spürt das kalte Gel auf der Haut, als die Ultraschallsonde über ihren Bauch gleitet. Knapp unter dem Bauchnabel stoppt der Arzt – er stutzt. „Die Nackenfalte ihrer Tochter ist dicker als normal“, sagt er und deutet auf das Ultraschallbild. „Das ist ein Zeichen für Trisomie 21.“

Die 33-Jährige ist in der zwölften Woche schwanger. Noch am selben Tag wird sie zu einem anderen Arzt geschickt. Ein Humangenetiker macht einen zweiten Ultraschall und empfiehlt eine Fruchtwasseruntersuchung, um Gewissheit zu bekommen. Mit einer langen Nadel sticht der Arzt Barbara Fischbacher in den Bauch.

Pränataldiagnostik heißt die medizinische Fachrichtung, die feststellen kann, ob ein Fötus Mutationen im Genom aufweist. Ursache für das Down-Syndrom ist die Trisomie 21: Das 21. Chromosom ist dreifach statt zweifach vorhanden. Das können Ärzte schon vor der Geburt erkennen, indem sie kindliche Zellen aus dem Fruchtwasser untersuchen. Wird die Trisomie festgestellt, sehen sich viele Eltern vor der Entscheidung: abtreiben oder nicht?

Zwei Wochen wartet Barbara Fischbacher, bis das Telefon klingelt und sich der Arzt meldet: „Ihre Tochter hat Down-Syndrom. Überlegen Sie sich, was Sie machen wollen und kommen Sie so schnell wie möglich in die Praxis.“ Fischbacher legt auf. Was soll das heißen, so schnell wie möglich? Sie fühlt sich unter Druck gesetzt. Bisher hat sie nicht über Abtreibung nachgedacht. Paula ist ein Wunschkind, ihr zweites. Sie wollte das Kind, jetzt ist es beeinträchtigt. Will sie es jetzt nicht mehr?

Gemeinsam mit ihrem Mann informiert sie sich, sie lesen Broschüren, sprechen mit Ärzten. Man erklärtihnen,wie eine Abtreibung ab der vierzehnten Woche funktioniert. Paula würde nicht einfach durch einen Eingriff oder die Einnahme von Medikamenten verschwinden. Sie müsste unter Wehen zur Welt gebracht werden. Ihr kleiner Körper wäre zu schwach, um die Geburt zu überleben. Wenn der Fötus älter und fast schon lebensfähig ist, wird er noch im Mutterleib getötet. Solch ein später Abbruch ist in Deutschland nur dann gesetzlich erlaubt, wenn die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter gefährdet ist. Das wird im Falle einer auffälligen pränatalen Diagnose in der Regel vom Arzt bescheinigt.

Barbara Fischbacher denkt an das Ultraschallbild und die kleinen Füße, die sie darauf gesehen hat. Sie weiß nicht, ob sie eine Abtreibung will. Ein paar Tage später ruft die Frauenarztpraxis wieder an. „Sie können das nicht so hinauszögern“, sagt die Sprechstundenhilfe. „Bitte kommen sie bald vorbei.“ Auch Freunde und Familie zeigen wenig Verständnis für das Zögern des Paares. „Tut euch das nicht an“, sagen die Schwiegereltern. „Heutzutage muss man kein behindertes Kind mehr bekommen“, heißt es aus dem Freundeskreis. Plötzlich ist Paula kein Wunschkind mehr, sondern ein Makel.

Die meisten Frauen entscheiden sich in solch einer Situation für einen Abbruch der Schwangerschaft. Frauenärzte sprechen von 80 bis 90 Prozent der diagnostizierten Fälle. Gertrud Strobl-Wildemann, Humangenetikerin aus Passau, nennt keine Zahlen, aber sie bestätigt, dass sich ein Großteil der Patientinnen, die eine vorgeburtliche Untersuchung in Anspruch nehmen, gegen ein Kind mit Down-Syndrom entscheidet. „Wer den Test macht, hat meist die Absicht, diese Behinderung auszuschließen“,
sagt sie.

Gleichzeitig bietet die Medizin immer mehr Möglichkeiten für die pränatale Diagnose. Seit vier Jahren gibt es neben der Fruchtwasseruntersuchung den sogenannten Praenatest. Der Mutter wird Blut abgenommen, in dem sich Bestandteile kindlicher DNA befinden. So können sich Frauen ohne großes Risiko untersuchen lassen. Im Gegensatz zur Fruchtwasseruntersuchung, die eine Fehlgeburt auslösen kann. „Durch diesen Test ist sicher eine Zunahme der vorgeburtlich diagnostizierten Kinder mit Trisomie 21 feststellbar“, sagt Martin Schneider, Gynäkologe und Spezialist für Pränataldiagnostik am Klinikum Passau. „Und dadurch auch eine Zunahme der Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen bei Down-Syndrom.“ Wichtig sei deshalb eine umfassende Beratung, bevor die Eltern ihre Entscheidung treffen.

Barbara Fischbacher kennt keine Menschen mit Down-Syndrom, bevor sie erfährt, dass ihre Tochter einer sein wird. Eine Hebamme rät ihr, mit anderen Betroffenen zu sprechen und stellt den Kontakt zu einer Familie her. Kurze Zeit später sitzen sie und ihr Mann Christian bei den Eltern von Korbinian im
Wohnzimmer. Während die Erwachsenen Kaffee trinken, spielt der Zweijährige. Er ist fröhlich und aufgeweckt, leidet aber an einem Herzfehler. Menschen mit Trisomie 21 haben ein erhöhtes Risiko, damit geboren zu werden. Während des Gesprächs beobachtet Barbara Fischbacher die Eltern. Sie ist fast ein bisschen überrascht, als sie sieht, wie fröhlich die sind. Sie beschließt, Paula zu bekommen.

„Der gesellschaftliche Druck ist groß“, sagt Christine Sammer-Brunnauer von Donum Vitae in Traunstein. Zu ihr kommen Frauen nach der pränatalen Diagnose zur Schwangerenberatung. „Sie sind meistens unter Schock, können es nicht glauben und schämen sich sogar“, sagt sie. Am meisten Angst hätten die Frauen davor, dass ihr Kind schwer krank zur Welt kommt.

Gynäkologe Martin Schneider hat bei der Beratung seiner Patientinnen in letzter Zeit festgestellt, dass sich zunehmend mehr Paare trotz nachgewiesener Trisomie 21 für das Kind entscheiden. „Mit der Thematik wird offener umgegangen, und die Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber dem DownSyndrom und anderen Behinderungen wächst langsam“, sagt er.

Paula ist mittlerweile 18 Jahre alt. Sie sitzt am Küchentisch. Ihre Füße baumeln vom Stuhl, der ein Stückchen zu groß für sie ist. Sie streicht sich die roten Haare aus dem Gesicht. Ihre Mutter sitzt neben
ihr. „Manchmal hat man schlimme Vorstellungen von etwas“, sagt Barbara Fischbacher. „Das Leben ist dann aber viel sanfter.“

Paula schmiegt sich an ihre Mutter. Sie schmust gerne mit ihren Eltern. Dann schreit sie aber auch mal „Manno“ und „Kein Bock“, wenn sie ihr Zimmer aufräumen soll. Sie dreht die Musik gerne auf volle Lautstärke. Zur Zeit schwärmt sie für einen Jungen, einen Freund hat sie aber noch nicht.

Jeden Tag geht die 18-Jährige in die Schule des Heilpädagogischen Zentrums in Eggenfelden. Dort trifft sie ihre Freunde, lernt und macht Sport. „Schwimmen mag ich gern“, sagt sie. „Deutsch geht auch.“

Paula kann lesen, schreiben, rechnen, deutlich sprechen und tanzen.

Was Paula nicht so gut kann: Fahrradfahren, dazu braucht sie Stützräder. Ihre Motorik ist beeinträchtigt. Sie braucht länger, um zu begreifen, manches versteht sie gar nicht. Ihr fehlt das eigenständige Entscheiden. Wenn man sie darum bittet, Geschirr abzuwaschen, macht sie das. Sie würde aber nicht selbst auf die Idee kommen. Paula wird nie alleine leben können.

„Die Auswirkungen des Down-Syndroms werden von vielen schwerwiegender eingeschätzt, als sie sind“, sagt Gertrud Strobl-Wildemann. „Ich höre oft von Eltern, dass sich die Kinder besser entwickeln als erwartet.“ Das liege an den guten Frühfördermöglichkeiten. Von klein auf schulen Therapeuten kognitive Fähigkeiten und Motorik. Auch Krankheiten, zu denen Menschen mit Down-Syndrom neigen, sind besser behandelbar als noch vor dreißig Jahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich seit 1929 von neun auf 60 Jahre gesteigert. Laut dem Deutschen Down-Syndrom Infocenter leben circa 50 000 Menschen mit Trisomie 21 in Deutschland.

Als Paula noch klein ist, ertappt sich Barbara Fischbacher manchmal dabei, ungeduldig zu werden. „Eltern geben ja furchtbar gerne an mit ihren Kindern und sagen dann so Sachen wie: Mein Kind kann
schon ,lala‘ machen und den Kopf heben. Paula konnte das alles erst viel später. Bis sie vier war, konnte sie nicht mal laufen.“ Das war nicht immer leicht für ihre Eltern. „Ich habe Paula sechs Jahre lang gewickelt“, sagt Barbara Fischbacher, „das war nicht schön.“ Aber sie habe gelernt, geduldig zu sein, den Dingen Zeit zu geben. Paula konnte ja nichts dafür.

Vor zehn Jahren ist die Familie nach Arnstorf gezogen – von Freising aufs Land. Dort leben sie in einem alten Bauernhaus, das von einem verwilderten Garten und ein paar Bauernhöfen umgeben
ist. Paula hat zwei Schwestern. Johanna ist 20 Jahre alt und gerade ausgezogen. Maria ist mit elf Jahren
die Jüngste. Sie hat manchmal das Gefühl, zu kurz zu kommen. „Das stimmt schon“, sagt Barbara Fischbacher. „Paula braucht mehr Aufmerksamkeit.“

Christian Fischbacher, Paulas Vater, sitzt am Küchentisch. An der Wand hängen Zeichnungen von einer Stadt. Die Häuser sind schief, dazwischen verzweigen sich Straßen zu einem verwinkelten Labyrinth. „Die hat ein Mensch mit geistiger Behinderung gezeichnet“, sagt der 48-Jährige. „Die haben eben eine ganz eigene Sicht auf die Welt. In zwei bis drei Jahren wird Paula ausziehen. Ihre Eltern haben sie in einer betreutenWohngruppe angemeldet. „Wir wollen, dass sie ein eigenständiges Leben führen kann“, sagt Christian Fischbacher. „Es wird nicht leicht, Paula gehen zu lassen.“