Eine Kolumne von Julia Segantini
Vor mir liegt ein Stapel Aktenordner. Aber keine farbigen Hochglanzordner mit Metallbindung, wie sie in jedem Büro zu finden sind. Diese Ordner sind aus dunkelbrauner Pappe und mit Sütterlinschrift bedruckt. Die Seiten sind angerissen und zerfleddert, stark vergilbt ist das dicke Papier aus den 30er Jahren. Der schwarze Schreibmaschinendruck ist auf manchen Dokumenten noch gut zu lesen, auf anderen schon stark verblasst.
Eigentlich habe ich schon alles, was ich für meinen Artikel brauche aus dem vorherigen Aktenstapel mit Dokumenten aus den 50er Jahren entnommen. Trotzdem schlage ich den alten Aktenordner auf, weil ich damit rechne, dass in den Papieren aus der Zeit des Nationalsozialismus irgendetwas Spannendes sein muss. Was ich vorfinde, bereitet mir mit jeder umgeschlagenen Seite mehr und mehr Unbehagen. Mehr sogar, als die Prozessakten von Karl Wolffsohn.
Dabei erscheinen diese Papiere wenig skandalös, alltäglich sogar, langweilig könnte man denken. Sorgfältig abgeheftet sind hier Rechnungen für neue Teppiche für den Eingangsbereich der Lichtburg. Eine der Rechnungen wurde fehlerhaft getätigt und muss rückgängig gemacht werden auf das Konto mit der Nummer 8500419. Außerdem übernimmt die Stadt Essen zum großen Teil die Erneuerung der Gummimatten im Eingangsbereich. Eine Lieferung über 300 Stück steht noch aus, beweist ein Schreiben. Ein Nachbar beschwert sich über zu viel Lärm vom Kino.
Kennt ihr das Gefühl, wenn einem siedendheiß etwas einfällt und sich das wie ein Schlag in die Magengrube anfühlt? So geht es mir, als ich zum ersten Mal am Fuß des Dokuments „Heil Hitler" lese. Auf einer Seite prangt in der Mitte sogar ein gestempelter Reichsadler mit Hakenkreuz. Das kenne ich sonst nur aus dem Museum, wo mich eine Glasscheibe von dem Dokument trennt. Ich zögere mehrmals, dann streiche ich mit dem Finger darüber, ziehe die Hand aber sofort weg, als hätte ich mich verbrannt. Ich lehne mich nach hinten und muss laut ausatmen. Ich habe nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte.
Schockiert war ich nicht von den Heizungs- und Stromrechnungen an sich. Sondern eben von der Normalität, die sie vermitteln. Genau wie heute wurden Rechnungen bezahlt, Teppiche gekauft, Mahnung verschickt, sich über Nachbarn geärgert. Zeitgleich wurden sechs Millionen jüdische Menschen vernichtet. Und alle haben es gewusst und währenddessen Stromrechnungen geschrieben.