Eine Band aus Seattle mit Connections zu Pearl Jam, Soundgarden, Nirvana und Mudhoney muss zwangsläufig Grunge spielen? Weit gefehlt. WALKING PAPERS, die Band um Sänger und Gitarrist Jeff Angell zeigt mit ihrem aktuellen Album „WP2“, wie man echte Gefühle durch bluesigen Alternative-Hardrock vermittelt. Bevor WALKING PAPERS im Oktober nach Europa kommen, haben wir deshalb bei Jeff nachgefragt, wie die Veränderungen in der Besetzung sich auf die Band ausgewirkt haben und wieso er das Songwriting so liebt.
WALKING PAPERS ist eine Band aus Seattle, aber ihr spielt keinen Grunge. Wie ist das überhaupt möglich?
»Wir waren bekannt dafür, Grunge zu spielen! Aber niemand hat es geschafft, uns so zu dokumentieren, genau wie sie nicht in der Lage waren, den Big Foot einzufangen.«
Wenn du nicht Teil der Grunge-Bewegung warst, welcher Jugend- oder Subkultur hast du als Teenager angehört?
»Ich wuchs damit auf, alle Grunge-Bands zu beobachten, die hier in Seattle in lokalen Clubs und Konzerthallen spielten, bevor sie berühmt wurden. Ich fand sie außergewöhnlich und ihre Musik war mehr mit mir verbunden als das meiste, was damals im Radio und bei MTV lief. Ich wusste irgendwie, dass ich Glück hatte, hier aufzuwachsen und die Entwicklung dieser Bands mitzuerleben. Vorgänger dieser Ära waren für mich The Cult, Jane's Addiction und Ministry. Ich schätze, ich war irgendwie Gothic-mäßig, aber damals nannte man uns noch „Bat Cavers“, da Goth noch kein Begriff war.«
Zu Grunge hast du also eine ziemlich starke Verbindung; Bei eurer selbstbetitelten Debütplatte war Gitarrist Mike McCready von Pearl Jam dabei und „WP2“ wurde von Jack Endino produziert, der auch mit Soundgarden, Nirvana und Mudhoney gearbeitet hat. Wie kommt es, dass ihr schon nach zwei Platten von all diesen großen Namen umgeben seid? Dazu kommt ja auch, dass Duff McKagan von Guns N' Roses beim ersten WALKING PAPERS-Album mitgewirkt hat.
»Abgesehen von McCready kenne ich diese Typen seit Jahren. Duff war ein Fan meiner früheren Bands Post Stardom Depression und The Missionary Position und Jack Endino produzierte eine der Platten von Post Stardom Depression. Ich spiele schon seit geraumer Zeit regional und ich schätze, wir waren sowas wie die Lieblinge von Musikern. Wir bekamen viel Unterstützung von Leuten in größeren Bands.«
Führen diese großen Namen um dich herum auch dazu, dass du dich mit ihnen vergleichst?
»Ich habe mich immer schon mit meinen Lieblingskünstlern verglichen. Einige von ihnen haben große Namen, andere nicht. Wie groß etwas ist oder wie viele Platten verkauft werden, sagt nichts über die Qualität aus. Wenn es so wäre, würde McDonalds das beste Essen servieren und der Toyota Corolla wäre das beste Auto. Ich habe stets hohe Erwartungen an meine Arbeit und ohne arrogant klingen zu wollen, bin ich sehr stolz darauf. Ich weiß, dass sie in vielerlei Hinsicht anderen Sachen überlegen ist, die so in den Regalen stehen. Diese oben genannten Leute sind so freundlich, mich daran zu erinnern, indem sie mich unterstützen, und das bestätigt mich.«
Euer Debüt kam 2013, „WP2“ erst 2018. Warum mussten wir so lange warten?
»Das Musikgeschäft ist ein grausamer und seichter Geldgraben, ein langer Plastikflur, in dem Diebe und Zuhälter frei herumlaufen und gute Männer wie Hunde sterben. Es gibt also auch eine negative Seite! Dinge außerhalb von WALKING PAPERS haben die Veröffentlichung der Platte behindert und das hat viel mit meinen anderen Beschäftigungen zu tun. Zu dem Zeitpunkt als sich die Dinge zu verzögern begannen, produzierte ich die [Jeff Angel's] Staticland-Platten und tourte durch Europa, Großbritannien und die Staaten um diese zu supporten. Nach einigen Überlegungen und Verhandlungen sind wir jetzt aber endlich in der Lage, dieses Album von WALKING PAPERS an den Mann zu bringen, dahin, wo es hingehört.«
Duff McKagan war beim Debüt noch dabei, konnte aber aufgrund seiner Verpflichtungen bei Guns N' Roses nicht mit dem neuen Album touren und wurde durch Dan Spalding ersetzt. Wie hat sich der Besetzungswechsel auf die Band ausgewirkt?
»Anscheinend wollten viele Leute eine Zeitmaschine zurück ins Jahr 1987 nehmen. Duff identifiziert sich mit Guns N' Roses und dieser Ära und ich bin froh, dass er von diesem Erfolg profitieren kann. Sie haben wirklich eines der besten Rock-Alben, die je gemacht wurden, produziert und die Leute wollen natürlich eine Kostprobe davon bekommen. Selbst wenn ich könnte, würde ich den Menschen, die an diesem Glück teilhaben, nicht im Weg stehen wollen. Es ist in gewisser Weise unangenehm für mich, aber musikalisch ist es keine große Herausforderung. Dan ist ein guter Freund von mir und ich bin froh, mit ihm Musik zu machen.«
Es gab noch weitere Veränderungen im Line-up, Barrett Martin konnte ebenfalls nicht mit euch touren und wurde durch Will Andrews ersetzt (ex-Ten Miles Wide und The Mothership). Außerdem kamen der zweite Gitarrist Tristan Hart Pierce und der Saxofonist Gregor Lothian dazu. Inwieweit haben diese Veränderungen in der Besetzung die Dynamik und den Sound der Band verändert?
»Niemand kann irgendwen ersetzen. Chet Atkins war nicht Jimmy Hendrix, aber wer bestimmt, wer der bessere Gitarrist ist? Also ja, es hat sich etwas geändert, in gewisser Weise zum Besseren und in gewisser Weise ist es einfach anders. Wenn etwas nicht funktioniert hat, haben wir eben neue Wege gefunden, den Songs gerecht zu werden. Manchmal haben wir sie komplett zerlegt und wieder zusammengebaut. Wenn die Songs erst einmal drin sind, wird es wohl niemanden geben, der das Material, die Magie oder die Musiker in Frage stellen wird.«
Welcher Song auf „WP2“ repräsentiert deiner Meinung nach am besten WALKING PAPERS?
»'Death On The Lips', 'My Luck Pushed Back', 'Red And White' und 'Don't Owe Me Nothin''. Wir sind ziemlich variabel in unseren Genres, also brauchte ich ein paar.«
Richtig, ihr bewegt euch da durch verschiedene Genres und beschreibt damit unterschiedliche Erfahrungen. Glaubst du, dass das Schreiben von Songs dich näher an dich heranbringt und dich neue Aspekte über dich und andere entdecken lässt?
»Das ist wahrscheinlich die perfekte Definition dafür, warum ich davon besessen bin, zu schreiben. Wenn man den Text betrachtet, sind die Songs Charakterstudien. Manchmal geht es um mich, manchmal um jemanden, den ich kenne, oder über den ich gelesen habe, oder sogar um fiktive Charaktere. Wenn ich mich selbst in diese Perspektiven hineinversetze, beantworte ich mir viele Fragen. Es ist so ähnlich wie damals, als mich die Songs von anderen an die Hand nahmen, während ich aufwuchs. Ich verdanke The Doors, Black Sabbath, Jane's Addiction, Tom Waits und sogar Depeche Mode viel, denn ihre Texte haben mich geprägt.«
In eurem Album-Opener 'My Luck Pushed Back' singst du "I pushed my luck until my luck pushed back". Hast du an eine bestimmte Situation aus deiner Vergangenheit gedacht, als du diesen Text geschrieben hast?
»In diesem Lied dachte ich an einen lieben Freund aus meiner Jugend. Wir beide haben es ziemlich hart krachen lassen. Wir wollten wirklich kopfüber in das Leben eintauchen und es gab niemanden, der uns zurückhielt. Wir gerieten oft in Schwierigkeiten und entkamen zwar unversehrt, aber ich denke, wir haben vielleicht psychische Schäden davongetragen, die wir beide auch als Erwachsene noch nicht überwunden haben.«
Wo wir gerade bei Jugendsünden sind, was sind deine Guilty Pleasures in Sachen Musik?
»Adele, Depeche Mode, Lana Del Rey, Pantera. Vielleicht bin ich ein Soziopath, weil ich mich deswegen gar nicht schuldig fühle.«
Du nennst hier sowohl moderne als auch ältere Künstler. Wie bewertest du die Modernisierung der Musik, zum Beispiel auch hinsichtlich moderner Technologien?
»Die moderne Technik ist gleichzeitig das Beste und das Schlimmste, was der Musik je passiert ist. Als Zuhörer ist es ein wahr gewordener Traum, ständig Zugang zu allem zu haben. Als Künstler ist es unfassbar, die Fähigkeit zu haben, deine Arbeit mit deinem Publikum so zu teilen. Die Monetarisierung meiner Musik war nie mein Hauptaugenmerk, mich beschäftigt das nicht so sehr. Leute, die Kunst nicht unterstützen, verursachen jedoch eine Menge Schwierigkeiten. Was mich aber am meisten stört, sind die vielen Leute, die Musik machen, obwohl sie nicht wirklich qualifiziert sind. Die Technologie bringt die Zuhörer dazu, hinsichtlich dessen etwas anderes zu glauben. Diese Leute stehen den Leuten im Weg, die das Publikum mehr verdient haben.«
Auf eurer Tour wirst du das neue Album mit dem Publikum teilen können. Ändert das Anhören eurer Platte ein halbes Jahr nach ihrer Veröffentlichung deine Rezeption?
»Nein. Es ist immer noch eine tolle Momentaufnahme meines Lebens und der Songs in deren damaligen Zustand. Die Erfahrung, das Material zu schreiben und aufzunehmen, hat mich zu einer anderen Person gemacht, trotzdem kann ich immer noch die Gültigkeit dessen sehen, worum es in meinem vorherigen Selbst ging.«
Du scheinst dir sehr viele Gedanken um die Entstehung deiner Songs zu machen. Denkst du, du bist ein Perfektionist?
»Ich bin ein rehabilitierender Perfektionist. Ich lerne gerade, dass Perfektion ein immer unwichtiger werdendes Ziel ist. Ich glaube, ich habe ein paar Mal ins Schwarze getroffen, aber es hatte meistens mehr mit dem Schicksal zu tun als mit dem, was ich kontrollierte. Jetzt versuche ich, mich mehr für gute Dinge einzusetzen und zu erkennen, wenn Dinge das nicht sind, um dann Maßnahmen zu ergreifen, um die Flugbahn zu ändern.«
Wie sehen deine Zukunftspläne aus?
»Mehr über mich selbst herauszufinden durch diese Charakterstudien, die ich Songs nenne!«
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