Juna Schönborn

Kommunikatorin, Referentin, Lernbegleiterin, Autorin, emTrace Coach, Heidelberg

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Artikel

"Kennst Du schon den Plan?"

Es ist 1998. Ich sitze in einem viel zu verrauchten Keller und denke an meinen sehr mittelmäßigen Abiturdurchschnitt. Die einzige Option, die ich habe, ist ein Studienplatz für Kunstgeschichte in Chemnitz. Ich müsste ihn demnächst antreten, was ich nicht tun werde. Jemand dreht die Musik auf und findet laut, man müsse viel mehr Lou Reed hören. Dann drückt meine beste Freundin ihre Zigarette in einem übervollen Aschenbecher aus, beugt sich etwas über den uralten Holztisch mit den Glasrändern und fragt mich „Kennst Du schon den Plan?"

Ihr Bruder hört auf, Rauchringe in der Luft schweben zu lassen, und stellt die Frage noch einmal neu. „Sie kennt den Plan noch nicht?"

So beginnt die Geschichte.

Ist das Leben eine Aneinanderreihung von Zufällen? Oder gibt es Hinweise auf den Weg, den wir gehen sollten? Zieht es uns in eine bestimmte Richtung, weil wir dort einer Herausforderung, einer Chance, einer Weiterentwicklungsmöglichkeit begegnen? Oder ist das alles Unsinn, sind wir selbst unseres eigenen Glückes oder unserer eigenen Fesseln Schmiede, wahlweise und je nach individueller Prägung? Gehen wir einfach den Weg des geringeren Widerstands?

In dieser Nacht jedenfalls besprechen wir „den Plan". Die beiden haben mich nämlich ohne mein Wissen mit meiner zukünftigen WG-Partnerin verkuppelt und sowohl meinen Studienort als auch mein Hauptfach entschieden. „In Göttingen ist Germanistik zulassungsfrei! Du brauchst nur das Kleine Latinum". Das Gute am Plan: Germanistik, genauer: Literaturwissenschaften will ich ohnehin studieren, mein Abi ist bisher nur zu schlecht gewesen. Leider gilt das auch für meine Lateinkenntnisse. Durchs Latinum bin ich in der Schule zweimal gefallen. Nicht aus Prüfungsangst, wenn Ihr versteht, was ich meine.

Ich sage noch in der gleichen Nacht „Ja".

Diese Entscheidung, in einem verrauchten Keller, während Lou Reed singt und irgendjemand die großartige Geschichte wieder aufwärmt, wie ein Partygast mal in das Waschbecken im Zimmer gekotzt hat, soll nicht nur mein Leben, sondern auch das vieler weiterer Menschen unmittelbar beeinflussen. Wenige Monate später ziehe ich nach Göttingen, mache mein Latinum und schließe mit der Note zwei ab. (Wer hätte das gedacht?) Ich liebe Göttingen, ich liebe mein Hauptfach, ich wechsle mein Nebenfach wie andere Menschen Unterhemden, ich liebe die Dachterrasse meiner Zweier-WG. Ich lerne meinen späteren Mann und Vater meiner Kinder kennen. Wir überreden meinen Bruder und seine damalige Freundin, uns nachzuziehen. Beide machen dort ihren Abschluss, beide treffen dort ihre späteren Ehepartner. Die Freiheit meines Studiums, die richtige Begleitung auf dem Weg, die Arbeit am Lehrstuhl und viele, viele offene Türen, durch die ich gehe, ermöglichen mir einen extrem guten Abschluss. Die Examensurkunde nehme ich hochschwanger entgegen, hochschwanger verabschiede ich mich von meinem studentischen Engagement in der Fachschaft, meinen Freund*innen, meiner Wohnung schräg gegenüber dem Botanischen Garten. In ein neues Leben, in einen neuen „Plan".

„Kennst Du schon den Plan?"

„Nein, ich habe wirklich absolut keine Ahnung."

Das könnte damals meine Antwort gewesen sein. So oder so ist sie es heute. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich viel Mühe in einen Plan investiert habe. Das hat sich gut angefühlt, selbstwirksam, steuernd. Es gab Zeiten, da floss ich mit dem Strom, immer den Zeichen nach und durch die gerade offenen Türen. Das fühlte sich an wie im Einklang mit der Welt sein, im Vertrauen. Autonomie versus Zugehörigkeit, Freiheit versus Vorherbestimmung. Manchmal habe ich um einen Plan gebeten, geweint. Manchmal fand ich es grandios, dass ich keinem vorgefertigten Pfad folge. Ich bin weder getrieben noch ständig am Ruder. Ich bin im Grunde einfach da, mal mehr und mal weniger offen für das, was sich zeigt. Und ich bin dankbar für eine Entscheidung, die ich meiner Freundin und ihrem Bruder überließ - und die alles verändert hat.

„Das klingt so schwer nach Zen, da muss man ja fast leise Würgegeräusche machen."

„Dein Wunsch ist mir Befehl. *macht leise Würgegeräusche*"

Jedenfalls: Seit kurzem habe ich den Eindruck, dass es einen neuen Plan geben könnte. Die letzten Jahre waren gut zu mir, trotz der immensen Herausforderungen, denen wir alle gegenüberstanden: Enorm hohe persönliche Lernkurven, wertschätzende Zusammenarbeit, großartige Menschen, die ich auf ihrem Weg begleiten durfte. Das Gefühl, die Zukunft der Bildung und des Arbeitens mitzugestalten. Das Gefühl, die Welt für die zukünftigen Generationen nicht kampflos aufzugeben. Das Gefühl, sinnstiftend zu arbeiten. Und trotz Frust, mitunter fehlender Finanzierung und einiger Projekte, die echt mies liefen: Das Gefühl, für diesen Moment am richtigen Platz zu sein. Es könnte also alles gut sein, und doch ... ändert sich gerade etwas, ohne dass ich es bin, die es ändert.

Ach, was gäbe ich jetzt erneut um den verrauchten Keller, meine vollkommene Desorientierung, eine selbstgedrehte Zigarette und eine Stimme, die sagt „Kennst Du schon den Plan ...?"

So bricht die Geschichte (vorerst) ab. An alle lieben Menschen aus diesem Internet, die eigentlich nur bis hierhin gelesen haben, weil sie euphorisch dachten „Hurra, sie ist nicht tot": Es gibt mich noch. Ich bin überwiegend ok und oft glücklich. Sehr überarbeitet, aber wem erzähle ich das. Und ich vermisse Euch auch. Wenn Ihr nen Plan habt: Lasst es mich wissen! Ich tausche Rotwein gegen Gespräch mit Euch.

Erdling, dem Erscheinungsbild nach menschlich. Unangepasst und vielseitig. No borders, no nations.

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