Julia Sammler

Freie Journalistin | Autorin , Potsdam

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Reportage

Es bleibt in der Familie: Wie Familienaufstellungen Betroffenen von seelischen Konflikten Erleichterung versprechen

Eva leidet an Depressionen. Die Psychotherapie hilft ihr nicht weiter. Nun möchte sie der Ursache ihrer Erkrankung auf den Grund gehen und hat sich für einen ungewöhnlichen Weg entschieden.

Für einige von uns ist es heute das erste Mal. Andere gehören schon zum festen Ensemble und haben ihre Filzpantoffel mitgebracht, um den grünen Langflorteppich in der Mitte des Raumes nicht schmutzig zu machen. Ganz ohne Schuhe ist es in der zur Praxis umfunktionierten Altbauwohnung fußkalt. Heute Abend sind wir hier, um Eva zu helfen. Diese sitzt bereits angespannt auf einem der zum Stuhlkreis arrangierten Stühle. Dabei suchen ihre Augen den Raum hektisch nach einem Punkt ab, auf dem sie ruhen können. Es ist ihr erstes Mal. In wenigen Minuten wird sie sechs fremde Menschen sehr nah an sich heranlassen.

„Anspannung ist gut”, erklärt Doreen Handler, die uns durch den heutigen Abend führen wird und allen das „Arbeits-Du“ anbietet. „Wenn jemand ganz lässig daherkommt, ist das oft ein Zeichen dafür, dass er für Veränderung noch nicht bereit ist.” Die sanfte Stimme der 47-jährigen Heilpraktikerin und ihre tiefen Lachfalten um die Augen vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit. Eva richtet ihre Aufmerksamkeit auf ein Arrangement aus Terrakottafiguren in der Mitte des Teppichs und atmet tief durch.

Sie ist Ende 40 und möchte die Ursache für ihre Depression herausfinden. Nachdem sie in ihrer Psychotherapie nicht weiterkam, wurde sie auf die Familienaufstellung nach Bert Hellinger aufmerksam.

Das alternativmedizinische Therapieverfahren, das einen festen Platz im Leistungsspektrum zahlreicher Heilpraktikerpraxen deutscher Großstädte hat, gilt unter Fachtherapeuten als umstritten. Wesentliche Gründe dafür sind das dem Verfahren zugrunde liegende reaktionäre Weltbild des früheren Ordenspriesters Hellinger sowie die fehlende Anbindung an eine Psychotherapie. Während Hellinger als selbsternannter „Erfinder“ des Familienstellens mit seinen Shows weltweite Aufmerksamkeit erlangte, war es in Wirklichkeit die US-amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir, die die Methodik entwickelte und Aufstellungen einzig im klinischen Kontext als Instrument zur Diagnostik einsetzte.

Eine zweistündige Sitzung und danach die lang ersehnte Erlösung: Klientinnen wie Eva haben oft einen mehrjährigen Leidensweg hinter sich und wünschen sich in Praxen wie der von Doreen Handler, schnell von ihrem seelischen Schmerz befreit zu werden. Ist der Leidensdruck groß, fällt der Blick auf die Expertise eines Therapeuten häufig flüchtig aus.

Als Heilpraktiker für Psychotherapie benötigt man kein abgeschlossenes Psychologiestudium – noch nicht einmal ein Studium ist nötig, um diese Art von Lebenshilfe anzubieten. Eine private Ausbildung an einer Heilpraktikerschule genügt, um im Anschluss eine eigene Praxis aufzumachen. Doreen Handler hat Sprach- und Literaturwissenschaften studiert, ehe sie sich nach vielen Umbrüchen dazu entschied, Heilpraktikerin zu werden.

Heute wird Eva als Aufstellende unter den Anwesenden so genannte Stellvertreter wählen und durch uns ihre unbewusste Familiendynamik abbilden lassen. Als Stellvertreter zahlen wir jeweils 10 Euro. Die Familienaufstellung nach Hellinger beruht auf der Annahme, dass sämtliche Mitglieder einer Familie – egal ob lebend oder bereits verstorben – durch emotionale Bande miteinander verknüpft sind. Körperliche und seelische Erkrankungen seien auf ungelöste Konflikte innerhalb dieses Systems zurückzuführen, die den Betroffenen mithilfe der Aufstellung bewusst gemacht werden sollen.

Wir schließen unsere Augen und nehmen nach und nach einzelne Körperregionen wahr. Mein erster Eindruck: Ein bisschen Einführungsseminar in die Soziale Arbeit, ein bisschen Progressive Muskelentspannung. Nachdem wir den Stuhlkreises aufgelöst haben, wird der grüne Rundteppich zur Bühne: Als Erstes gilt es, einen Stellvertreter für Eva selbst zu finden. Mann oder Frau – egal. Ihre Wahl fällt auf Renate – Ende 40, grauer Kurzhaarschnitt, Filzpantoffel. „Gute Wahl”, sagt Doreen, „Renate ist eine erfahrene Aufstellerin.” Mit einem „Du bist jetzt Eva” stellt Eva ihre Stellvertreterin am Rande des Teppichs auf, der für die kommenden eineinhalb Stunden Schauplatz eines emotionalen Improtheaters ist.

Eine Frau mit lila Cardigan und Edelsteinkette betritt Kreis. Sie soll Evas Depression verkörpern. Beide Stellvertreterinnen stehen nebeneinander ohne sich anzusehen.
„Wie fühlt ihr euch?“, möchte Doreen wissen. „Och, mir ist die Depression eigentlich ganz sympathisch“, findet die neue Eva. Der Stellvertreterin der Depression ist die Nähe unangenehm und sie geht ein paar Schritte zur Seite. Als Nächstes wird Bernd in den Kreis geschickt. Auch er trägt Filzpantoffel und hat schon an Aufstellungen teilgenommen. Er steht stellvertretend für Evas Mutter Ingrid, der die Nähe zu ihrer Tochter unangenehm ist. Sie möchte sich von ihr wegdrehen und sich schützend vor die Depression stellen.

Nun ist Evas Großvater Egon an der Reihe. Die echte Eva zögert. Inzwischen sind nur noch Lea – eine junge Frau Mitte 20 – und ich – eine zierliche Mittdreißigerin – übrig. Wir beide scheinen nicht Evas Vorstellung von ihrem Großvater zu entsprechen. Trotzdem muss sie sich entscheiden. Schließlich zahlt sie für die Aufstellung mit Vorgespräch insgesamt 170 Euro und hat nur zwei Stunden Zeit. Ihre Wahl fällt auf Lea, die nun als Egon in Richtung Ingrid und Eva blickt. Im Raum ist Anspannung spürbar und Doreen bittet alle Stellvertreter ihre Gefühle in Worte zu fassen.

„Ich hab‘ ein ganz ungutes Gefühl und einen Kloß im Hals“, beschreibt Bernd alias Ingrid den Moment der Ankunft ihres Vaters.
„Ist es okay für dich, wenn wir jetzt deine Großmutter dazu stellen?“, Möchte Doreen von Eva wissen. Mit einem „Du bist jetzt Hilde“ werde ich in den Kreis geschickt und soll mir eine Stelle aussuchen, die sich für mich stimmig anfühlt. Ich stelle mich zur symbolischen Ingrid, für die ich tatsächlich so etwas wie Beschützergefühle wahrnehme. Als Nächstes werde ich darum gebeten, mich neben meinen Mann Egon alias Lea zu stellen, wie es die „natürliche Ordnung“ nach Hellinger vorsieht.

Nun ist die Aufstellung komplett und Doreen Handlers eigentliche Arbeit beginnt. Vom Rande des Teppichs aus betrachtet sie zusammen mit Eva das Arrangement aus Laiendarstellern. Ihre Annahme: Das Familiensystem ist gestört, da ein ungelöster Konflikt zwischen Evas Mutter und ihren Großeltern nie zur Sprache gebracht wurde. Nach und nach werden wir aufgefordert, unsere Gefühle zu beschreiben. Ohne Evas Geschichte zu kennen, habe ich eine Fantasie von dem entwickelt, was geschehen sein könnte. Die Auswahl der zu vertretenden Personen wurde im Vorfeld bewusst getroffen und durch Randgespräche zwischen Eva und Doreen habe ich Evas Großvater für mich als „Täter“ identifiziert.

Lassen sich die in mir entstandenen Beschützergefühle gegenüber „Ingrid“ dadurch erklären, dass ich mir selbst eine Geschichte zurechtgelegt habe und mich automatisch in ihre Protagonisten einfühle - ähnlich wie beim Mitfühlen eines traurigen Films? Durchaus.

Die echte Eva sitzt am Rand und wischt sich Tränen aus den Augen. Egal, woher unsere Gefühle kommen, sie scheinen etwas in ihr auszulösen. Ich beobachte, wie Doreen ihre Hand auf Evas Schulter legt und stelle fest, dass es vor allem die Empathie und Menschlichkeit der Heilpraktikerin sind, die Eva Erleichterung verschaffen. Ich frage mich, ob es genau diese Aspekte sind, die in Evas ambulanter Psychotherapie zu kurz kommen.

Zum Abschluss übergibt Doreen Evas Stellvertreterin einen Leinensack, der mit Ziegelsteinen gefüllt ist. Das Symbol für die seelische Last wird nach hinten durchgegeben, wo der Sack schließlich Evas „Großvater“ erreicht. Mit diesem Ritual gilt der Konflikt als vollständig aufgedeckt.

Wie Eva mit dem Ergebnis ihrer Aufstellung umgehen wird, ist unklar. Ein Telefongespräch bei „Nachbeben“ ist im Preis der Aufstellung inbegriffen. Jede weitere Sitzung kostet 80 Euro. Während Familienaufstellungen in der systemischen Therapie weiterhin zur Diagnostik eingesetzt werden, kritisieren Fachtherapeuten an der Familienaufstellung nach Hellinger die fehlende therapeutische Anbindung und bemängeln, dass Patienten sowie Stellvertreter am Ende mit dem Erlebten allein gelassen werden.

Auch Doreen Handler findet eine Begleitung des angestoßenen Prozesses sinnvoll, doch oft werden nicht einmal das angebotene Telefonat in Anspruch genommen. „Nicht immer wollen Klienten auch sehen was in der Aufstellung gezeigt wird und sich schmerzhaften Themen zuwenden“, vermutet die Heilpraktikerin.

Was der heutige Abend bringt, liegt also ganz bei Eva, ihrem Budget und ihrer Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln. Wir finden uns wieder im Stuhlkreis zusammen, schließen die Augen und atmen tief in den Bauch hinein, „damit der Abend nicht so kopflastig endet“, wie Doreen erklärt.