Julia Pabst

Freie Journalistin und selbstständige Fotografin , Wien

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„Er hat mich geschlagen, jeden Tag ..."

Mangelnde Sprachkenntnisse und finanzielle Abhängigkeit – türkische Migrantinnen können Gewalt in der Familie nur schwer entkommen. Der Verein „Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim" möchte das ändern.

Kaum fällt die Tür ins Schloss, geht es wieder los. Der Wohnungsschlüssel klimpert noch in ÇZs Hand, als ihr Mann den Gürtel aus seinen Jeans zieht. Er bäumt sich über ihr auf. Sie schrumpft zusammen. Er schlägt zu. Immer wieder. Immer fester. Sie trägt nur eine dünne Strickweste. Das Leder hinterlässt blutige Striemen auf ihren Armen. Irgendwann werden die Schläge langsamer. Hören auf.

ÇZ stammt aus der Türkei und ist 45 Jahre alt. Häusliche Gewalt betrifft unabhängig von Nationalität und Alter alle Gesellschaftsschichten. Das zeigt die Auswertung der Morddelikte im Jahr 2017: 28 von 36 Mordopfern waren Österreicherinnen, vier EU-Bürgerinnen und vier kamen aus Drittstaaten. Die Gewalt an Frauen nimmt nach einem Abwärtstrend vor fünf Jahren wieder zu: Im gesamten Jahr 2014 wurden 19 Frauen ermordet. Dieses Jahr waren es bereits bis zum Juli 19 Opfer.

Nach Informationen der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser ist in Österreich eine von fünf Frauen sexueller oder körperlicher Gewalt ausgesetzt.

Die Kriminalstatistik 2017 verzeichnete 9334 „Delikte gegen Leib und Leben“ in österreichischen Familien. Die Polizei schätzt, dass 90 Prozent der Gewalttaten innerhalb der Familie und des nahen sozialen Umfelds stattfinden. „In Österreich spielt häusliche Gewalt immer noch eine große Rolle. Sie tritt in all ihren Formen auf: Wenn es nicht die physische ist, ist es die psychische, wenn es nicht die psychische ist, ist es die ökonomische“, sagt die Psychotherapeutin Linda Acikalin. Seit eineinhalb Jahren behandelt sie beim Verein Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim vorwiegend türkische Migrantinnen. Neben Psychotherapie bietet der Verein auch Deutschkurse und Frauenberatungen an.


Schweigen.
 ÇZs Vater arrangiert die Ehe, für die sie von der Türkei nach Wien zieht. Am 15. September 1996 heiratet sie Bayar. In der Hochzeitsnacht gibt es zwar Sex, aber kein Blut auf dem Bettlaken. ÇZ sei keine Jungfrau mehr, schließt Bayar und schlägt zu. Als ÇZ schwanger wird, schreit er: „Wessen Bastard ist das?“ Und schlägt weiter, dieses Mal auf ihren Bauch.

ÇZs Hochzeit ist mittlerweile mehr als zwanzig Jahre her. Nach Schätzungen des Integrationsfonds lebten aber auch 2018 noch rund 5000 Frauen österreichweit in Zwangsehen. Der Verein Orient Express geht von einer Dunkelziffer von 200 betroffenen oder bedrohten Frauen jährlich aus. Die Zwangsheirat sei dem Verein zufolge nicht auf den Islam beschränkt, auch unter katholischen Roma gäbe es Fälle. Die meisten Betroffenen seien österreichische Staatsbürger.


Reden.
 „Er hat mich geschlagen. Jeden Tag.“ Heute kann ÇZ ihre Geschichte auf Deutsch erzählen. Damals sprach sie nur Türkisch: ÇZ wollte Deutsch lernen, aber Bayar stand zwischen ihr und den Büchern. „Wo sollen wir lernen? Beim Kochen? Beim Putzen? Beim türkisch Fernschauen?“, sagt ÇZ heute schnaubend. „Ohne Deutsch kann man nicht einmal Hilfe holen.“

Frauenberaterin Ayşe Aktuna vom Verein Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim spricht auch Türkisch. „Viele Frauen wissen nicht, welche Möglichkeiten sie in dieser Gesellschaft haben. Es fehlen Informationen.“ Informationsmaterial ist meistens nur auf Deutsch verfügbar. Verpflichtende Deutschkurse in den ersten Monaten helfen - aber nur bedingt. Viele können sich während der ersten Zeit im neuen Land nicht konzentrieren. ÇZ spricht aus Erfahrung: „Am Anfang gibt es für Frauen nur Druck. Druck in der Familie. Druck beim Lernen. Das funktioniert nicht.“

Wenige Türen neben dem Büro der Frauenberaterin Aktuna lernen aus der Türkei stammende Frauen im kostenlosen Basisbildungskurs Deutsch. Zehn Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen in einem U rund um das Lehrerpult. Sie besprechen die letzte Hausübung. Der Reihe nach nennen sie ihre Antwort, haken Richtiges ab und kreuzen Falsches durch. Keiner tuschelt. Niemand tratscht. Wenn jemand lacht, lachen alle. Sie treffen sich zweimal die Woche und arbeiten ohne Druck in ihrem eigenen Tempo.


Verstehen.
 In der sechsten Schwangerschaftswoche hat ÇZ mit hormonellen Schwankungen zu kämpfen. Sie wird depressiv. Die Ärzte verschreiben ihr ein Psychopharmaka nach dem anderen, aber nichts hilft. Eine Gesprächstherapie kommt nicht infrage: Bis zu 100 Euro kostet eine Stunde. Das kann sich die Familie nicht leisten.

15 Jahre später, im Jahr 2013, vermittelt eine Klinikpsychologin ÇZ an Judith Hanser, die Gründerin von Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim. Heute wird sie dort gratis behandelt. Bei Linda Acikalin kostet eine Stunde Psychotherapie normalerweise 60 Euro. Davon übernimmt die Krankenkasse knapp die Hälfte. Wer sich das nicht leisten kann, zahlt einen Spezialtarif. „Vor allem bei chronischen Erkrankungen und Menschen in prekären Zuständen, also zum Beispiel bei Krebspatientinnen, arbeite ich auch kostenlos“, erklärt die Therapeutin. Sie spricht mit ihren Klientinnen auch auf Türkisch. Das sei auch für Frauen wichtig, die fließend Deutsch sprechen, meint ÇZ. „Jeder Mensch kann sich besser in seiner Muttersprache ausdrücken.“


Flüchten. Sieben Jahre dauert es, bis ÇZ Hilfe holt. „Ich war schwach. Und müde. Lebensmüde. Ich habe keine Kraft gehabt.“ 2003 bekommt ÇZ ein neues Antidepressivum. Sie sieht das erste Mal seit Jahren wieder klar. Als ihr Mann erneut zuschlagen möchte, packt sie ihren Sohn und flüchtet.

ÇZ wendet sich an die Frauenberatungsstelle Orientexpress. Knapp 15.650 Frauen und Mädchen suchten 2017 Hilfe bei solchen Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen. Frauenberaterin Ayşe Aktuna von Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim hat im Vorjahr 490 Frauen beraten. Sie vermittelt zwischen Opfern, Interventionsstelle und Behörde, organisiert für Frauen wie ÇZ einen Platz im Frauenhaus und begleitet sie zum Gericht. Vor allem zeigt sie ihnen aber, wie es geht, auf eigenen Beinen zu stehen.

 

Weiterklettern. Unter dem Saum von ÇZs Kopftuch stehen einzelne graumelierte Kringellocken hervor. Statt Augenbrauen hat sie sich zwei dünne Striche aufgemalt. Ihre braunen Augen sind groß. Wimpern hat sie keine.

Seit 2012 hat ÇZ Brustkrebs. Die Krankheit ist hart, aber ÇZ hat schon viel überlebt. Sie hat ihren Sohn alleine aufgezogen, Deutsch gelernt, den Hauptschulabschluss nachgeholt und bei der Volkshilfe gearbeitet. „Ich bin so wie eine Katze, die auf den Baum des Lebens klettert. Ich falle immer wieder hinunter. Aber ich versuche weiter zu klettern.“

Linda Acikalin und Ayşe Aktuna von Miteinander Lernen - Birlikte Öğrenelim helfen ÇZ dabei. Aber auch sie fallen immer wieder vom Baum. Rund eine Million Euro wollte die blau-schwarze Regierung im Vorjahr österreichweit bei der Familienberatung einsparen. Der Dachverband für Familienberatung hat die Einsparung auf 500.000 Euro hinuntergehandelt. Ein schwacher Trost. Acikalin blickt besorgt in die Zukunft: „Dass finanzielle Mittel knapp sind, das war immer ein Thema. Aber die Finanzierungsfrage wird immer schwieriger. Wir wollen uns um unsere Arbeit kümmern, nicht um die Frage, ob wir die nächsten fünf Jahre finanziell überhaupt überleben.“

Auch ÇZ hat Geldsorgen. Sie zieht einen Schlussstrich. „Ich werde in die Türkei zurückgehen. Mit 910 Euro kann man in Österreich nicht leben.“ ÇZ zieht zu ihren Eltern. 910 Euro sind in der Türkei viel Geld. Das bringt Unabhängigkeit. „Wissen Sie: Geld ist gleich Freiheit“, sagt sie.

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