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TAGESWOCHE 24.9.2015 Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung will es wissen. Gewinnen bei den vorgezogenen Regionalwahlen am Sonntag (27. September) die Separatisten, soll innerhalb von 18 Monaten die Trennung von Spanien vollzogen werden. Auch gegen den Widerstand des spanischen Staates.

Die Anschrift macht erst stutzig, lässt dann schmunzeln: Avinguda Madrid, 87. Das Bündnis, das mit Spanien brechen will, residiert ausgerechnet an der Strasse, die die Hauptstadt des Gegners im Namen trägt. Ein Zufall, lacht der Pressemann, als er die Tür zum Büro von Junts pel Sí (Gemeinsam für das Ja) öffnet.

Die Wände sind weiss, auf den Tischen stehen Laptops, man telefoniert per Handy. Nicht einmal ein Logo des Bündnisses klebt am Schaufenster. Zeit sich einzurichten gab es nicht. Schliesslich hat man sich erst Mitte Juli zusammengefunden, zu einer ideologisch höchst heterogenen Liste.

125 Seiten für eine Forderung

Da findet sich der Spitzenkandidat der linksrepublikanischen Esquerra Republicana neben dem konservativen katalanischen Regierungschef Artur Mas, die agitationserfahrene Ex-Präsidentin der katalanischen Bürgerbewegung «Assemblea Nacional» neben der Ex-Präsidentin des Kulturvereins Òmnium oder der Liedermacher Lluis Llach und – auf dem letzten Platz – Fussballtrainer Pep Guardiola.

Das 125 Seiten starke Programm lässt sich auf einen einzigen Punkt reduzieren: Wir wollen einen eigenen Staat. Der Zeitplan ist ambitioniert. Erhält die Liste gemeinsam mit der linksradikalen CUP die absolute Mehrheit, soll innerhalb von sechs bis acht Monaten die Unabhängigkeit erklärt und innerhalb von 18 Monaten ein verfassungsgebendes Parlament gewählt werden. Vorgezogene Neuwahlen als indirektes Plebiszit – das ist die jüngste Volte im seit Jahren andauernden Konflikt zwischen Barcelona und Madrid.

Als Nummer 1 auf der Junts-pel-Sí-Liste kommt Raül Romeva die Aufgabe zu, diesen gewagten Plan nach aussen zu verteidigen. Der 44-jährige Politikwissenschaftler und Hobbyschwimmer, der das Hemd gerne leger über der Jeans trägt, gehört keiner der beiden grossen Parteien an und ist auch sonst von innenpolitischen Querelen unbeleckt. Als Vertreter der katalanischen Grünen sass er zehn Jahre im Europa-Parlament, war für Unesco und OECD in Bosnien und Herzegowina. «Per Regionalwahlen über eine Sezession abstimmen zu lassen ist nicht ideal», gibt Romeva zu und sucht nach einem freien Platz im improvisierten Büro. «Aber es ist der einzige Weg, den man uns gelassen hat.»

Abspaltung – und dann? 

Ein Referendum nach schottischem Vorbild hat Madrid unter dem Hinweis auf die Verfassung stets ausgeschlossen und auch sonst alle Verhandlungsversuche abgeblockt. «2012, 2013, 2014 haben zwei Millionen Menschen friedlich demonstriert, für ein Referendum, für die Unabhängigkeit – und der Staat hat darauf nicht reagiert. Dann haben wir letztes Jahr in einer symbolischen Befragung abstimmen lassen, und der Staat stellt einen Strafantrag gegen unseren Ministerpräsidenten», empört sich Romeva und hebt an zu einem langen Exkurs über die Gründe für eine Sezession.

Die Autobahnen, für die in Katalonien teure Maut bezahlt werden muss, während man im armen Süden kostenlos über frisch geteerte Strassen brettert. Die fehlenden Investitionen in die Mittelmeertrasse, über die Waren und Menschen von den wichtigsten Häfen nach Europa transportiert werden sollen. Das Autonomie-Statut von 2006, das radikal zusammengestrichen und dann vom Verfassungsgericht in entscheidenden Passagen suspendiert wurde. Die Blockade des spanischen Staates, das Katalanische als EU-Sprache zuzulassen. Der Antrieb der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ist eine komplizierte Melange aus Strukturproblemen, Krisenfrust und dem Gefühl ständiger Zurücksetzung.

Der Gegenentwurf zum Status quo kommt noch etwas inhaltsleer daher: Im Wahlspot der Liste laufen lachende Menschen über Wiesen und Strand, in einer Art Arkadien, in der schwule Paare ebenso glücklich werden wie fleissige Arbeiterinnen und innovative Wissenschaftler.

Wie die katalanische Republik einmal aussehen soll, weiss man auch bei Junts pel Sí nicht so genau. «Wir bleiben auf jeden Fall in der EU», sagt Artur Mas, Ministerpräsident der wirtschaftsstarken Region. Dabei weht den Katalanen gerade aus Brüssel Gegenwind entgegen. Eine Sezession habe auf jeden Fall den «automatischen Ausschluss aus der EU» zufolge, warnte die Europäische Kommission; auch die spanischen Grossbanken haben angekündigt, Katalonien bei einem Austritt aus der Eurozone zu verlassen. «Die EU ist pragmatisch genug, um 7,5 Millionen Katalanen nicht einfach hängen zu lassen», glaubt Romeva. «Das Einzige, was die EU will, ist eine demokratische Legitimation.»

Doch gerade die könnte zum Stolperstein werden. Denn auch wenn den Wahlen das Etikett «plebiszitär» anhängt: Die für eine Sezession von Spanien notwendige Mehrheit definiert Junts pel Sí nicht nach Stimmen, sondern allein nach Abgeordneten. Da bei der Auszählung die Wahlkreise aus dem katalanischen Hinterland ein leichtes Übergewicht haben, könnte es sein, dass die Sezessionsparteien zwar die meisten Abgeordneten stellen, aber nicht die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich versammeln. Auch das wäre dann für Junts pel Sí ein Ja zur Unabhängigkeit. Aber sind die Wahlen dann noch ein Referendum?

Volle Kraft voraus

Als Artur Mas, Raül Romeva und Oppositionschef Oriol Junqueras auf einer gemeinsamen Pressekonferenz danach gefragt werden, kontert der katalanische Ministerpräsident spitzbübisch: «Ich tausche diese Wahlen sofort gegen ein echtes Referendum, aber das hat man uns ja verboten.» Zu diesem Zeitpunkt schwenken ein paar Hundert Meter entfernt Hunderttausende Menschen Estelades, die sternverzierten gelb-rot-gestreiften katalanischen Fahnen, das Emblem der Unabhängigkeitsbewegung. Es ist Diada, katalanischer Nationalfeiertag, die Zeit der grossen Gesten. Für Bedenken oder Gedankenspiele zu einem Plan B ist kein Platz.

Dabei ist das Szenario nicht an den Haaren herbeigezogen. Umfragen sagen den separatistischen Parteien zwar eine absolute Mehrheit voraus. Allerdings weiss jeder vierte Katalane noch nicht, wo er am Sonntag sein Kreuz machen wird. Laut einer Erhebung der katalanischen Tageszeitung «La Vanguardia» heissen nur 15 Prozent der Katalanen ein Vorpreschen um jeden Preis gut. Die linksradikale CUP, die für eine absolute Mehrheit der Sezessionisten unabkömmlich sein wird, hat bereits angekündigt, nur eine Stimmenmehrheit als Pro-Unabhängigkeits-Votum gelten zu lassen. Die Situation ist verfahren, das entgeht keinem. Nur jeder Fünfte glaubt daran, dass nach dem Wahlsieg tatsächlich die Unabhängigkeit erklärt wird.

Druck machen und hoffen

Unweit der Büroräume von Junts pel Sí sitzt Montse Ribes am Tresen einer Frühstücksbar. Ganz sicher sei sie noch nicht, aber wahrscheinlich werde sie am Sonntag ihr Kreuz bei einer der beiden Unabhängigkeitslisten machen. Weil sie einen eigenen Staat möchte? «Naja, vor allem, weil sich was ändern soll», sagt die Fremdsprachensekretärin und nippt am Milchkaffee. «Nur, wenn wir laut genug sind, bekommen wir endlich das Geld, das uns zusteht. Oder vielleicht doch irgendwann ein echtes Referendum.»

«Nur wenn wir eine absolute Mehrheit haben, können wir auf Gesten aus Madrid hoffen», sagt auch Raül Romeva. Die Signale, die von der Avinguda Madrid ausgehen, könnten ein letztes Rauchzeichen in Richtung Hauptstadt sein: Im Dezember wird in Spanien ein neues Parlament gewählt; je grösser der Druck aus Katalonien, desto grösser die Chance, dass Madrid und Barcelona tatsächlich verhandeln.