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Ausgangssperren in Spanien: "Frenar la curva"

Spanische Sicherheitskräfte patrouillieren in Madrid. © Pablo Blazquez Dominguez/​Getty Images

16. März 2020. Im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus hat Spanien radikale Maßnahmen erlassen: Millionen Menschen sollen das Haus nicht verlassen. Leicht fällt ihnen das nicht. 


Abends um acht stehen überall in wieder Menschen auf den Balkonen und klatschen in die Nacht. Der abendliche Applaus ist eine Hommage an Ärztinnen und Pfleger, an das gesamte Personal im Gesundheitswesen und ist bereits am zweiten Tag des nationalen Notstands ein lieb gewordenes Ritual. " Bravo" und " si, se puede", "wir schaffen das" tönt es von den hell erleuchteten Fensterrahmen gegenüber. Wir rufen zurück. Und haben für einen kurzen Augenblick das Gefühl, der Situation tatsächlich gewachsen zu sein. Als wir unsere Balkontür schließen und zurück in unserer Wohnung sind, ist es vorbei. Ich habe keine Ahnung, ob wir "das schaffen". Ich weiß nicht einmal, was "das" eigentlich ist.


Seit Samstagabend gilt in Spanien wegen der Ausbreitung des Coronavirus der Alarmzustand, die drittstärkste Stufe des Ausnahmezustandes. Soweit möglich, sollen 47 Millionen Spanierinnen und Spanier zu Hause bleiben. Nur wer einkaufen, zum Arzt oder zur Arbeit oder Ähnliches muss, darf auf die Straße. Cafés, Restaurants, Museen sind zu, nur Lebensmittelläden, Apotheken und eine kleine Liste anderer Geschäfte für den "täglichen Bedarf" dürfen öffnen. Sämtliche Verwaltungen sind der Zentralregierung unterstellt, sie darf in Industrie, Handel und Produktion eingreifen und Lebensmittel rationieren. Zug- und Flugverkehr wurden um die Hälfte reduziert.


Das Szenario war absehbar. Und trotzdem ist niemand richtig vorbereitet. Egal wie viele Klopapier- und Reispackungen man gebunkert hat. Egal wie viele Film- und Spieletipps, wie viele "Links gegen die Langeweile" man in diversen WhatsApp-Gruppen ausgetauscht hat. Wir sitzen zu Hause und wundern uns. Bei jeder aktualisierten Zahl - knapp 8.000 Covid-19-Kranke und 292 Todesfälle sind es inzwischen in Spanien (Sonntagabend) - kommt der Gedanke: Warum haben Politik und Gesellschaft so spät reagiert? Und warum reagieren manche immer noch nicht?


Fröhliche Jogger, spazierende Rentner


Am Tag eins der Quarantäne kursieren Videos von Senioren, die in der Frühlingssonne Boule spielen, oder von Touristen, die sich weigern, in ihre Apartments zurückzugehen. Vor unserem Fenster in Barcelona drehen auf der autofreien Straße fröhlich ein paar Jogger ihre Runden, ein paar Rentner schlendern mit Brot und Zeitung unterm Arm den Bürgersteig entlang, ein Radfahrer winkt hoch zu unserem Balkon. Gegen Mittag berichten Kollegen aus anderen Stadtvierteln von den ersten patrouillierenden Polizeiautos, die Passanten per Lautsprecher nach Hause schicken. Die katalanische Regionalpolizei schließt bis zum Abend 300 Vergnügungslokale. Ab heute werden Sanktionen verhängt: Zwischen 100 und 600 Euro muss zahlen, wer Absperrungen nicht beachtet, zwischen 601 und 30.000 Euro, wer sich nicht an Anweisungen der Sicherheitskräfte hält. In Madrid, Valencia, León, Zaragoza, Sevilla und Teneriffa patrouilliert das Militär, um, so heißt es, kritische Infrastrukturen zu sichern und bei Desinfektionsmaßnahmen zu helfen.


Wie alle europäischen Regierungen hat auch die spanische Linkskoalition radikale Schritte wochenlang gescheut und sich dann mit der Umsetzung schwergetan. Premier Pedro Sánchez kündigte erst am Freitag den Alarmzustand an. In Madrid, einem der Zentren der Epidemie, waren da bereits seit Tagen Kindergärten, Schulen und Universitäten zu, Katalonien folgte am Freitag. Bekannt gegeben wurden die Maßnahmen des nationalen Alarmzustands aber erst am Samstag - nach einer siebenstündigen Sitzung des Ministerinnenrates. Die Zeit nutzten Tausende Hauptstädter, um noch schnell in ihr Wochenend-Apartment an der Küste zu fahren. Als am Samstag das Land dann schon über das geleakte Maßnahmenpaket für den Alarmzustand debattierte, zankten sich die Parteien PSOE und Podemos hinter verschlossener Tür über Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft. Natürlich sind die dringend notwendig - in vielen Restaurants, Theatern, Hotels in Barcelona wurde den Mitarbeitern bereits betriebsbedingt gekündigt, Selbstständige aus allen Branchen stehen vor dem Aus - aber vielleicht hätte das auch bis Dienstag Zeit gehabt.


Kluft zwischen Wissen und Handeln


Noch eigenartiger wirkt der Streit zwischen der Madrider Regierung und dem katalanischen Regionalpräsidenten Quim Torra. Die separatistische Regionalregierung fürchtet um ihre Kompetenzen im Gesundheitswesen. Statt die Verfassung "als Impfung" zu benutzen, hätte Sánchez die Region Katalonien und Madrid abriegeln lassen sollen, so Torra am Samstag. Natürlich kann man hinterfragen, warum Spanien nicht bereits die Grenzen geschlossen hat, aber hinter den Krisenmaßnahmen als Erstes eine "versteckte Zwangsverwaltung" zu wittern, wirkt reichlich bizarr. Spanien war in den vergangenen Tagen ein gutes Beispiel dafür, das zwischen dem Wissen, was eigentlich zu tun ist, und dem entsprechenden Handeln eine eigenartige Verzögerung klafft.


Das merken wir auch an uns selbst. Denn natürlich wissen wir, dass es vor allem darum geht, die Kurve mit den bisher exponentiell ansteigenden Infektionen zu senken: " Flatten the curve", " frenar la curva". Nur so können Risikogruppen geschützt, nur so kann das trotz massiver Einsparungen während der Krisenjahre immer noch solide spanische Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt werden. Dazu müssen wir nichts anderes tun, als mit unserem achtjährigen Sohn zu Hause zu bleiben. Ganz einfach, theoretisch. Und praktisch ziemlich schwer.


Am Samstagmittag, als ganz Spanien auf die konkreten Maßnahmen des Alarmzustandes wartet, will mein Lebensgefährte noch mal schnell raus, in den Supermarkt unter uns, Joghurts kaufen. Wir haben unseren ersten großen Zoff. Ich finde es verantwortungslos, weil man sich oder andere im Gedränge anstecken kann. Er findet es unverantwortlich, den Einkauf zu verschieben. Wer weiß, vielleicht sind die Schlangen in ein paar Tagen noch länger, das Risiko größer? Brauchen wir überhaupt Joghurts? Schließlich bleibt er zu Hause. Und tippt sich am nächsten Tag an die Stirn, als ich nachmittags nur mal kurz überprüfen will, ob Spielplätze, Parks und der Stadtstrand Barceloneta tatsächlich vorschriftsmäßig abgesperrt sind, mit Pressejacke, rein aus Recherchegründen.


Was macht es eigentlich so kompliziert, Entscheidungen nicht nach dem erhofften individuellen Nutzen zu treffen, sondern nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft? Vermutlich, weil wir eigentlich nicht aufs Kollektiv vertrauen. Was bringt es denn, wenn ich zu Hause bleibe, die Nachbarin sich aber sowieso zum letzten Vor-Quarantäne-Bier verabredet? Dazu kommt, dass die Corona-Krise eben keine Zombie-Viren-Apokalypse ist, mit dramatischen Lähmungserscheinungen sofort nach einer Infektion, sondern ich erst nach zwei Wochen weiß, ob ich heute vielleicht versehentlich als Virenschleuder unterwegs war. Und der Anreiz, unser Verhalten zu ändern und zu Hause zu bleiben, scheint erst mal gering: Gegen das schöne Wetter draußen hat "flatten the curve" im spontanen Moment der Entscheidungsfindung schlechte Karten.


Statt beim Spaziergang Absperrungen zu überprüfen, entwerfe ich mit meinem Sohn einen Stundenplan für die nächsten Wochen: Acht Uhr aufstehen. Sport machen. Dann anziehen und frühstücken. Zwei Stunden Unterricht mit Mama, Mittagspause, zwei Stunden Unterricht mit Papa. Feste Wochentage für Videospiele, Heimkino und virtuelle Treffen mit Freunden. Gekocht wird gemeinsam. Mein Partner ist selbstständiger Tragwerksplaner. Da wir seit Jahren Rücken an Rücken im Homeoffice arbeiten, sind wir geschult in gegenseitiger Toleranz. Trotzdem graut mir vor den kommenden Wochen. Wir beschließen, dass sich jeder von uns bei Bedarf im Schlafzimmer verbarrikadieren und Kissen gegen die Wände werfen darf. Das finden wir beide ziemlich albern. Noch.


Arm in Arm beim Feierabendbier


Eine befreundete Krankenschwester aus Teneriffa klagt, dass bereits acht Mitarbeiter aus ihrem Team in Quarantäne sind und sie nicht weiß, wie sie in den nächsten Wochen den Betrieb in ihrem Gesundheitszentrum organisieren soll. Ihr Mann hatte am Freitagabend noch ein paar Fotos gepostet, die ihn und einen gerade aus Madrid zurückgekehrten Freund Arm in Arm beim Feierabendbier zeigten. Ein paar regten sich damals fürchterlich darüber auf – und ernteten Unverständnis in der WhatsApp-Gruppe.


Die Vorstellung von dem, was richtig und was falsch ist, hat sich rasend schnell verschoben. Vor einer Woche schien es unmöglich, von der Demonstration zum Weltfrauentag abzuraten – oder gar eine Absage zu erwägen. Wie könnte eine linke Regierung, die eine feministische Politik propagiert, so etwas rechtfertigen? Heute schüttelt man darüber den Kopf: Von denjenigen, die am 8. März in Madrid in der ersten Reihe marschierten, wurden drei positiv auf das Coronavirus getestet, darunter die Gleichstellungsministerin Irene Montero und die Ehefrau von Premier Pedro Sánchez.


Am Abend bekommen wir einen Anruf von einem besorgten Freund aus Mexiko-Stadt. Er hat in den Nachrichten von der Ausgangssperre gehört. Das sei doch bestimmt total übertrieben? Uns gehe es gut, beruhigen wir, wir seien gesund und hätten alles, aber die Lage sei ernst. Er lacht irritiert. Dabei ist es vermutlich genau das: Es ist nicht schlimm. Aber die Lage ist ernst.



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