ZEIT ONLINE, 11. September 2017. Es mutet an wie eine Szene aus einem Kafka-Roman: Auf dem Schreibtisch von Xavier Fonollosa, Bürgermeister des Industriestädtchens Martorell, 30 Kilometer nordwestlich von Barcelona, liegen zwei sich widersprechende Briefe, und beide tragen einen offiziellem Amtsstempel. Im ersten Schreiben fordert der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont den Bürgermeister auf, das für den 1. Oktober angesetzte Unabhängigkeitsreferendum vorzubereiten. Im zweiten weist die spanische Regierung ihn ausdrücklich darauf hin, dass er das zu unterlassen habe, weil er damit geltendes Recht breche.
Der Bürgermeister zuckt die Schultern, zieht das Revers seines dunkelblauen Anzugs glatt und steckt sich eine Zigarette an. Fonollosa wird nur dem ersten Brief Beachtung schenken. "Seit vergangener Woche ist der einzige bindende gesetzliche Rahmen für mich der katalanische", sagt er mit spitzbübischem Lächeln.
Auf Konfrontationskurs
Der Lokalpolitiker gehört der PdeCAT an, der wirtschaftsfreundlichen, konservativen Partei des ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten Artur Mas. Als Teil der Pro-Unabhängigkeit-Liste JuntsXSi hat sie Mitte vergangener Woche gemeinsam mit der linksradikalen CUP im katalanischen Parlament das umstrittene Referendumsgesetz durchgeboxt und dazu ein weiteres Gesetz, das den juristischen Übergang regelt. Zusammen ebnen die beiden Texte den Weg zur Volksbefragung und dann gegebenenfalls zu einem eigenen Staat der Katalanen. Sie erkennen den spanischen Rechtsrahmen explizit nicht mehr an und berufen sich stattdessen auf das internationale Völkerrecht und die katalanische Gesetzgebung.
Die spanische Zentralregierung wertet das als einen Staatsstreich der Legislative. Sie droht den Organisatoren des Referendums mit Geldstrafen bis zu 30.000 Euro. Keine Angst? Fonollosa lächelt wieder, noch ein wenig spitzbübischer, und schüttelt den Kopf.
Gigantisches Wahlkreuz auf den StraßenDer 11. September ist der katalanische Nationalfeiertag: la Diada Nacional de Catalunya, oder einfach kurz: la Diada, der Feiertag. In diesem Jahr steht er im Zeichen der kalkulierten Rebellion. Das spanische Verfassungsgericht hat das Referendumsgesetz in einem Dringlichkeitsverfahren suspendiert, die Staatsanwaltschaft hat alle Vorbereitungen untersagt. Doch im katalanischen Fernsehen laufen weiter die Wahlspots, und auch der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont gibt sich ungerührt. Dem vorhersehbaren "Tsunami aus Klagen und juristischen Querelen" werde man mit einem "Tsunami der Demokratie" begegnen, sagt er.
Trotz als politische Strategie
Für die Großdemonstration anlässlich der Diada haben sich bereits 400.000 Menschen angemeldet. Vermutlich werden noch Zehntausende dazukommen. Um Punkt 17 Uhr 14 wollen sie an zwei zentralen Straßen der Stadt ein gigantisches Wahlkreuz bilden. Das Bild ist ebenso symbolisch wie die Uhrzeit: 1714 unterlag Katalonien im spanischen Erbfolgekrieg und verlor infolgedessen die Reste staatlicher Eigenständigkeit.
Die bis ins Detail inszenierten Performances der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung haben Tradition. Seit 2012 werden sie federführend von der katalanischen Unabhängigkeitsplattform Assemblea Nacional organisiert. Auch in diesem Jahr drängen sich Demonstrationsteilnehmer um die Verkaufstresen der Bürgerbewegung, wo neongelbe T-Shirts mit der programmatischen Aufschrift "Ja" feilgeboten werden. Ein Mann ersteht gleich drei davon, für sich und zwei Freunde. "Das wird die wichtigste Diada überhaupt", sagt er. "Wir müssen der Welt beweisen, dass wir eine friedliche und zivile Bewegung sind."
Die Friedfertigkeit ist das große Kapital der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. In diesem Jahr ist sie wohl wichtiger denn je, denn nur wenn man vor der Weltöffentlichkeit als standhafter Verfechter der Demokratie besteht, hat das umstrittene Referendum überhaupt eine Chance auf internationale Resonanz. Sein rechtlicher Rahmen nämlich ist nicht nur wegen des Gegenwinds aus Madrid strittig. Das Gesetz beruft sich lediglich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker - das aber gilt nach gängiger Rechtsprechung lediglich für ehemalige Kolonien oder für Volksgruppen, deren Mitglieder nachweislich allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit unterdrückt werden.
Macht der Bilder
Also setzt man auf die Macht der
Bilder, um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Als am Wochenende die spanische Guardia Civil die Redaktionsräume und
die Druckerei der Wochenzeitung El Vallenc nach Wahlzetteln und anderem
Material für das Unabhängigkeitsreferendum durchsuchte, stimmten Dutzende
Anwohner ad hoch komponierte Spottlieder an: "On estàn les paperetes?" "Wo sind
denn nun die Wahlzettel?" Dann überreichte ein junger Mann den Polizisten rote
Nelken.
Spanien kann in diesem Wettstreit nur verlieren. Sollten am Wahltag tatsächlich Polizisten der Guardia Civil vor den Kameras der internationalen TV-Sender Wahlurnen konfiszieren, wäre der Gesichtsverlust enorm.
Die Regierung des konservativen
Ministerpräsidenten Mariano Rajoy hat die katalanische Unabhängigkeitsbewegung
bisher vor allem als juristisches
Problem betrachtet und jedes Bestreben um ein Referendum mit dem Wunsch
nach Sezession gleichgesetzt. Unter Berufung auf die spanische Verfassung
schloss sie Volksabstimmungen in dieser Frage kategorisch aus, ließ
entsprechende Gesetze suspendieren, die politisch Verantwortlichen juristisch
belangen – ohne aber politische Alternativen aufzuzeigen.
Das war ein taktischer Fehler.
Denn obwohl die Katalanen dem Traum von einem eigenen Staat gespalten gegenüberstehen, wünschen sich 80
Prozent von ihnen angesichts der
politischen Blockade eine verbindliche Befragung. Das resolute Nein der
Madrider Regierung und die Boykottaufrufe der Sozialisten und der liberalen
Bürgerpartei bringen die potenziellen Nein-Wähler jetzt in eine Zwickmühle: Wählen
sie nicht, wird ihre Stimme nicht gehört. Wählen sie aber, legitimieren sie ein
Referendum, bei dem der Sieg des Ja fast als ausgemacht gilt.
Neinwähler in der Zwickmühle
Noch ist längst nicht klar, in wie
vielen der 948 Kommunen am 1. Oktober tatsächlich abgestimmt werden kann. Auch die
1,6-Millionen-Metropole Barcelona schwankt noch. Die linksalternative
Bürgermeisterin Ada Colau will nur Wahllokale zur Verfügung stellen, wenn ihrer
Verwaltung Rechtssicherheit gewährleistet wird.
Die juristischen Drohungen
der Zentralregierung spielen bisher der Unabhängigkeitsbewegung in die Hände. "Eigentlich wäre mir
eine Verfassungsreform für ein föderales Spanien am liebsten", sagt Rosa
Martínez, Besitzerin eines Zeitungskioskes in Barcelonas Altstadt und sortiert
die Stapel mit der Tagespresse. "Aber wenn es so weitergeht, stimme ich auch
mit Ja – aus purem Protest." Druck erzeugt eben Gegendruck: Ohne diesen
Mechanismus wäre auch die katalanische Unabhängigkeitsbewegung nie so erstarkt.
2006 träumten gerade einmal 15 Prozent der Katalanen von einem eigenen Pass,
inzwischen ist es knapp die Hälfte.
Im Ausland wird das Streben nach Eigenständigkeit häufig als Wohlstandsideologie abgetan. Die wirtschaftsstarke Region im Nordosten wolle ihren Reichtum nicht mit dem armen Süden teilen. Dabei spielen neben Steuerlast und fehlenden Investitionen vor allem politische und emotionale Gründe eine große Rolle. Als das spanische Verfassungsgericht 2010 das katalanische Autonomiestatut radikal beschnitt und den Passus zu den nationalen Besonderheiten strich, traf das viele Katalanen tief.
"Spanien hat einfach nie anerkannt, dass
es eigentlich ein plurinationaler Staat ist", klagt auch Xavier Fonollosa,
der Bürgermeister aus Martorell. "Es
schert alle über einen Kamm und wird uns so einfach nicht gerecht." Dazu käme
das Kompetenzgerangel wie bei den islamistischen Anschlägen Mitte August: Die
katalanische Regionalpolizei Mossos d'Esquadra klagte damals darüber, keinen
direkten Zugang zu Europol-Daten zu haben. Die spanische Guardia Civil
beschwerte sich, nicht rechtzeitig zu den Ermittlungen zugezogen worden zu
sein. Dann wischt Fonollosa mit einer ausladenden Geste über seinen Schreibtisch:
Schnee von gestern. Jetzt gelte es, die Menschen für das Referendum zu
mobilisieren. "Wenn weniger Leute wählen als am 9. November 2014, geben wir uns
der Lächerlichkeit preis. Wenn mehr als vier Millionen wählen, hat Spanien ein
Problem." Die Diada soll zum Startschuss für die Kampagne werden.
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