Julia Herz- El Hanbli

Ethnologin, Kulturjournalistin, Coburg

9 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Nähklasse gegen Masse

 

Kleidung kaufen war gestern. Der neueste Trend heißt „Do It Yourself“. Das Nähcafé „Ragechild“ von Raini Freitag in der Mainzer Altstadt bietet Raum für Näherfahrene und Nähbeginner. Ein Aufruf zum gemeinsamen Kreativ-Sein und ein Statement gegen unsere Wegwerfgesellschaft.



Man muss schon sagen, an Kleidung mangelt es uns ja nicht. Im Minutentakt produziert die Textilindustrie Unmengen an Stoff jeglicher Form und Couleur, alle paar Monate locken die großen Labels mit den neuesten Mode-Kollektionen, verheißen Individualität und Originalität. Später wird das kleine Schwarze, Blaue oder Geblümte auf der nächsten Party euphorisch vorgeführt. Man fühlt sich originell – gar individuell. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem man entgeistert feststellt, dass auch das Mädel an der Bar sich eben in dem gleichen Schwarzen individuell und originell fand. Ein absolutes No-Go in unserer individualisierten Gesellschaft. Doch was tun gegen diese Massenindividualität von der Kleiderstange? Eine Möglichkeit besteht darin, selbst zu Stoff, Schere und Schnitt zu greifen und das nächste Kleid von „Made-By-Me“ tragen.

Genau das bietet das „Ragechild“-Café von Raini Freitag in der Schönbornstraße der Mainzer Altstadt. Seit Januar öffnet die gelernte Meisterdesignerin für Theater ihr Nähcafé für Nähbegeisterte und Nähinteressierte. Während ihrer jahrelanger Arbeit als Verkäuferin in Stoffläden begegnete sie immer wieder Menschen, die ihr Interesse am Selbstgenähtem bekundeten, doch weder über Kenntnisse, geschweige über eine Nähmaschine verfügten. „Ich habe gemerkt, dass hier ein sehr großer Bedarf besteht,“ erzählt die Amerikanerin mit deutschen Wurzeln „und dass sich viele Menschen wünschen, etwas 'selbst' zu erschaffen, doch nicht so genau wissen, wo und wie.“

Im „Ragechild“-Nähcafé mit gemütlichem Ambiente gibt es Raum und Rat für jeden, der Lust hat, sich kreativ auszuprobieren oder sich auszutoben.

Das Prinzip ist einfach und sehr schnell erklärt: Hast du Lust am Nähen, hast Schnitt, Stoffe und Know-How aber keine Nähmaschine – dann bist du bei Raini in ihrem Nähcafé genau richtig. Hier stehen Tische samt Nähmaschine zum Mieten und Nähen bereit. Hat man Lust am Nähen, doch die Inspiration lässt zu wünschen übrig, dann kann man diese in Rainis kostenloser Schnittbibliothek holen. Ist Inspiration samt Lust und Laune vorhanden, doch das Know-How fehlt - für diese Gruppe gibt Raini nach Ladenschluss Nähkurse, nach dessen Abschluss man sich stolz als „Made By Me“-Clubmitglied bezeichnen darf. Aber auch für jene, die Probleme bei Nähprojekten im heimischen Nähstübchen haben, steht die gelernte Stoffdesignerin in ihrem hippen Laden mit professionellem Rat zur Seite.



Gegen Wegwerfgesellschaft


Neben dem Entwerfen und Nähen aus jungfräulichen Stoffen legt Raini großen Wert auf Nachhaltigkeit und bewussten Umgang mit der Ressource „Kleidung“. Alten Kleidern, Röcken, Hemden zum neuen Leben zu verhelfen durch Umschneidern, Umnähen oder gar Zusammentuckern – gerade bei solchen Nähvorhaben hilft die Designerin besonders gern. Sitzbank-Kissen aus alter Bettwäsche? Kein Problem, findet Raini. „Ich bewahre oft schöne alte Stoffe, um aus ihnen etwas Neues zu schneidern.“ Und dies zeigt sich auch in ihrem Laden. Das überdimensionale Bild an der Wand entpuppt sich beim näheren Hinsehen als ein mit Stoff bezogener Bilderrahmen – vielleicht ein Vorhang aus früherem Leben?


Jährlich werden allein in Deutschland etwa 700.000 Tonnen Altkleidung entsorgt. Mit gutem Gewissen – jedoch ohne Wissen – spenden wir unsere aussortierten Kleider an diverse Wohltätigkeitsorganisationen. Mit gutem Gewissen, vielleicht, verteilen diese Organisationen einen Teil der Altkleidung tatsächlich unentgeltlich an Bedürftige. Was jedoch viele nicht wissen: eine beträchtliche Menge der Altkleidung wird weiterverkauft. Zwar verwenden die Organisationen das Geld für ihre sozialen Projekte, doch dass sie mit ihrem Verkauf die lokalen Textilindustrien vor Ort schädigen, dass ist vielen wahrscheinlich nicht bewusst – denn gegen den billigen Kleidungsimport aus dem Westen kommen die heimischen Textilhersteller in Tansania nicht an. Dies sind die Auswirkungen des globalen Altkleiderhandels. Wenn man sich die vor Augen führt, dann sollte man sich wirklich überlegen, ob das T-Shirt vielleicht nicht doch eine neue moderne Tasche, Marke „Made By Me“ abgeben könnte. In Rainis Nähcafé würde man hierfür sofort auf offene Ohren stossen. „Es ist wichtig, dass man alte Stoffe wiederverwendet“, findet Raini. “Auch die Knöpfe und Reissverschlüsse sollte man beim Entsorgen der Altkleidung behalten. Denn unsere Ressourcen sind nicht unendlich.“


Für all jene, die keine Lust mehr auf „das-Top-habe-ich-auch“-Gespräche haben, die ungern am WG-Küchentisch zwischen Kochdunst und Käsefondue-Vorbereitung des Mitbewohners schneidern – im „Ragechild“- Nähcafé haben sie Raum, die eigene kreative Ader zu entdecken und so manch einem textilen Teil ein zweites Leben zu verschaffen.  

Zum Original