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Staat oder Individuum - wer muss handeln?

EnergieWinde: Frau Heybl, Herr Neckel, am 11. Februar war „Dicker-Pulli-Tag". Der wird schon seit ein paar Jahren in den Niederlanden und in Belgien begangen und jetzt gab es auch in Deutschland den Vorschlag, dass jeder sich an diesem Tag mal einen dicken Pulli anziehen und zuhause die Heizung ein, zwei Grad runterschalten solle. Eine gute Idee?


Christine Heybl: Ich glaube, es gibt schon einige, die das ausprobieren und es auch als gute Aktion werten. Ich glaube aber, wie so oft im Klimaschutz machen diejenigen mit, die sowieso sensibilisiert sind, und die andere Seite macht sich eher darüber lustig.


Sighard Neckel: Ich würde da nicht mitmachen, ich halte das für sinnlos und außerdem für ein Ablenkungsmanöver von dem, was wirklich getan werden muss, um die Emissionen zu senken. Abgesehen davon, dass ich das als öffentliche Aufforderung auch etwas anmaßend finde, wenn Haushalte, die sowieso wenig Geld haben, jetzt auch noch den wohlmeinenden öffentlichen Ratschlag bekommen, sie mögen sich doch bitte einen Pullover überziehen.


Heybl: Nichtsdestotrotz hat die einzelne Person Einfluss auf den Klimaschutz, erst recht beim Heizen und auch bei der Ernährung. Privathaushalte haben ganz viel Potenzial und solche Aktionen können einen guten Effekt erzielen.


Neckel: Aber gerade das Heizen ist doch ein Beispiel dafür, wie begrenzt der individuelle Einfluss auf etwa die CO 2-Emmissionen ist. Sie entstehen doch weniger durch einen exzessiven Wärmeverbrauch einzelner Konsumenten und Konsumentinnen, sondern sie stammen aus den fossilen Brennstoffen, die gerade in Deutschland mit der Braunkohle für die Wärmeerzeugung eingesetzt werden.


Heybl: Aber ich habe natürlich die Wahl, zu einem Ökostrom- oder Ökogas-Anbieter zu wechseln, das kann ja nicht nur der Eigentümer der Immobilie tun, sondern auch der Mieter. Ich kann vielleicht auch eine kleinere Wohnung beziehen, wenn ich zu großzügig wohne. In Potsdam, wo ich herkomme, passiert es relativ häufig, dass Wohnungen getauscht werden und dann der Wohnraum verkleinert wird. Wir können uns dieses Weiterkonsumieren, wie es momentan geschieht, nicht leisten. Und deshalb glaube ich schon, dass es Sinn ergibt, auch die Individuen in die Pflicht zu nehmen. Auch wenn es natürlich schwierig ist, das Wort Verzicht in den Mund zu nehmen.


Neckel: Die Aufforderung zum Verzicht ist mir viel zu pauschal. Die Anrufung des Individuums, es möge sich doch jetzt gefälligst an den Klimawandel anpassen und einschränken in seinen vermeintlich unendlichen Konsumbedürfnissen, geht an der Wirklichkeit doch vielfach vorbei. Das dient der Selbstbestätigung derer, die diese Anrufungen äußern, in ihrem Gefühl der moralischen Überlegenheit. Man muss doch berücksichtigen, dass man von „dem Individuum" kaum sprechen kann. Schließlich sind auch in Deutschland die reichsten zehn Prozent aller Haushalte für mehr als ein Viertel der Emissionen verantwortlich. Wenn man angesichts völlig unterschiedlicher ökologischer Fußabdrücke jedem Individuum in gleicher Weise sagt, du musst aber verzichten, dann ist das die beste Voraussetzung dafür, dass politisch ein ökologischer Wandel nicht durchsetzbar ist, weil er als Inbegriff einer sozialen Ungerechtigkeit erscheinen muss.


EnergieWinde: Das heißt aber, die Menschen, denen es besonders gut geht - und zu denen können wir uns wohl alle zählen -, hätten mehr Verantwortung und wären zum Verzicht verpflichtet?


Neckel: So ist es. Haushalte, die über das Geld verfügen, eine klare Entscheidung zu treffen über ein umweltfreundliches E-Auto oder über einen SUV mit 2,5 Tonnen Stahl, an die geht ganz klar die Aufforderung, den SUV nicht zu kaufen.


EnergieWinde: Sie haben also ein Elektroauto?


Neckel: Ich habe gar kein Auto, aber wir wohnen auch nah am Uni-Viertel mitten in der Hamburger Innenstadt. Für mich wäre ein Auto nur ein Hindernis. Aber ich fliege heute zum Beispiel weniger; innerhalb von Deutschland kann ich mich kaum erinnern, dass ich je geflogen bin. Und mittlerweile nehme ich auch nach Wien oder Zürich den Zug. Was mir leichter fiele, wenn die Verbindungen besser wären ...


EnergieWinde: Frau Heybl, worauf verzichten Sie?


Heybl: Ich bin keine Vegetarierin, da muss ich mich leider outen. Ich versuche aber, sehr wenig Fleisch zu essen, vielleicht so einmal im Monat. Tatsächlich verkneife ich mir das sehr oft, würde also schon sagen, dass ich bewusst verzichte.


EnergieWinde: Und das ist unsere moralische Pflicht?


Heybl: Wenn man zu Kant zurückgeht und sich unsere momentane Lage anschaut, dann würde Kant argumentieren, dass wir als Individuen nun mal auf unsere eigene Vernunft zurückgeworfen bleiben, immer wieder. Wir können anders wählen, wir können den Stromanbieter wechseln, wir können andere Lebensmittel kaufen und so den ökologischen Landbau fördern und wir können auch unsere Geldströme umleiten, indem wir zum Beispiel zu einer ökosozialen Bank wechseln. Das wären vier Big Points, wo wir strukturell wirklich etwas verändern können.


Neckel: Ich stimme in allem zu - aber was Sie da vorschlagen, entspricht der Lebenshaltung eines urbanen, grünen, jungen Mittelschichtsmilieus, das eh schon vielfach so lebt. Doch diese Orientierungen breiten sich nicht einfach so in anderen Bevölkerungskreisen aus.


Heybl: Also ich denke, unser Bildungssystem befähigt uns hier heute in Deutschland doch sehr stark, unsere Vernunft zu benutzen. Und darum geht es: vernünftig zu handeln! Mit unserem Konsum schränken wir die Lebensqualität und die Lebensumstände der künftigen Generationen so drastisch ein, dass das in keinem Verhältnis steht. Das heißt, es wäre vernünftig und moralisch für alle Menschen, sich heute einzuschränken.


Neckel: Dann qualifizieren wir diejenigen als unmoralisch ab, die sich nicht einschränken können oder dies nicht in einer Weise tun, wie es von ihnen erwartet wird. Ich finde, es führt nicht weiter, das Individuum zum Hauptschuldigen für die ökologischen Katastrophen unserer Zeit zu machen. Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2021 aus der moralischen Verantwortung für künftige Generationen eine völlig andere Konsequenz gezogen. Es hat die Bundesregierung in die Pflicht genommen, dafür zu sorgen, dass es zu einer drastischen Reduzierung der Emissionen kommt. Industrie, Energieerzeugung, Gebäudewirtschaft, Abfallwirtschaft, Agrarindustrie: Hier sind die großen Hebel umzulegen. Während auf der anderen Seite der Appell an das Individuum, um das ganz klar zu sagen, aussichtslos und wirkungslos ist.


EnergieWinde: Aber es wäre ein Anfang.


Neckel: Ich habe das mal durchgerechnet: Ein Student mit wenig Geld, der kein Auto hat, Fahrrad fährt, mit seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern auf engem Raum lebt, vegetarisch isst und keine Flugreisen unternimmt, hat einen faktischen CO 2-Ausstoß von 5,4 Tonnen CO 2 im Jahr. Selbst er müsste bis 2030 seinen persönlichen Fußabdruck um mehr als die Hälfte reduzieren, um die Klimaziele zu erreichen. Das ist völlig unrealistisch!


Heybl: Ich muss trotzdem meinen Teil dazu beitragen. Natürlich ist es schwierig, Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu ändern. Wenn die Infrastruktur uns 50 Supermärkte aber nur einen Bioladen gibt, dann wird man eher zum Supermarkt gehen. Deshalb sagen aber sowohl die Postwachstumsökonomie als auch die Moralphilosophie, dass wir die Verpflichtung haben, uns immer und immer wieder darin zu üben, in diese Richtung zu gehen. Das heißt, einerseits braucht es einen emotionalen Impuls, zum Beispiel von den eigenen Kindern oder vielleicht auch Nachrichten, die einen besonders schockieren. Und dann wäre das kontinuierliche Einüben in diese Richtung etwas, womit wir wirklich etwas verändern können.


Neckel: Nehmen wir zum Beispiel die Massentierhaltung. Da gibt es in der Gesellschaft einen weitgehenden Konsens darüber, dass diese Formen der Tierhaltung und von Schlachtfabriken nicht zulässig sein sollten. Trotzdem kann sich hier der Konsument allein nicht durchsetzen, nicht ohne die Politik.


EnergieWinde: ... die einfach sagen müsste: Wir verbieten diese Art der Tierhaltung.


Neckel: Exakt.


EnergieWinde: Und warum macht sie das nicht?


Neckel: Da stehen große Interessen dahinter und auch eine politisch-wirtschaftliche Herrschaftsroutine, dass das Fleisch für das Volk gefälligst billig zu sein hat.


Heybl: Das ist in der Tat ein Feld, auf dem sich alle sehr schwertun, auch in meinem Umfeld. Da würde ich sogar Herrn Neckel zustimmen, dass in der breiten Bevölkerung nicht der Wille da ist, für Lebensmittel mehr zu bezahlen, weil es einem wirklich das Gefühl gibt, man müsse sich einschränken. Ernährung ist ein schwieriges Feld, auf dem man jeden Tag üben muss, das ist wirklich ein Knackpunkt.


EnergieWinde: Aber es kann doch nicht sein, dass dieser Konflikt in den Familien ausgetragen werden muss, dass Kinder und Eltern darüber streiten, ob man jetzt noch Fleisch essen darf oder nicht.


Heybl: Ich glaube, es muss Druck von unten aufgebaut werden, damit die Politik merkt, dass sie handeln muss. Die Erfahrung zeigt, dass wir eine Minderheit brauchen, die als Multiplikator funktioniert und den Wandel herbeiführt. Das sind meistens so 13 bis 14 Prozent.

Neckel: Da stimme ich völlig zu. Veränderungen werden häufig angestoßen durch überzeugungsfähige Minderheiten. Das sehen wir im Augenblick auch. Deshalb bin ich gar nicht so pessimistisch.


Heybl: Also ich habe mir bei der letzten Bundestagswahl schon mehr erhofft.


Neckel: Natürlich könnte man sagen, solange die Grünen wie bei den letzten Bundestagswahlen nur 14 Prozent bekommen, wird sich nicht viel ändern. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das umweltpolitische Programm der Regierung nicht völlig anders wäre, wenn der Bundeskanzler etwa Markus Söder heißen würde. Wir stellen doch fest, dass der Wille zur Verhinderung der ökologischen Katastrophe sich weit verbreitet hat in vielen Gesellschaftsschichten und politischen Parteien außer der AfD. Das ist gesellschaftlicher Wandel.


EnergieWinde: Aber können wir uns wirklich auf Parteien verlassen, deren Wahlprogramme für die Bundestagswahl allesamt den deutschen Klimazielen nicht gerecht werden?


Heybl: Im Prinzip nicht. Aber wie Herr Neckel gerade gesagt hat, es diffundiert einfach mittlerweile in alle Parteien, und das macht natürlich Hoffnung. Das Thema ist in der Gesellschaft angekommen. Ich frage mich nur, wie wir das schaffen wollen in dem Zeitfenster, das wir noch haben.


Neckel: Die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato hat in ihrem Buch „Mission", das übrigens auch Olaf Scholz gelesen haben soll, eine Vorstellung entworfen, die ich sehr schön finde. Sie sagt, wir brauchen zur Bewältigung der Klimakrise eine Kooperation von Unternehmen, Wissenschaft und Politik, mit entsprechender Unterstützung der Gesellschaft. So wie damals, als die USA unter Präsident Kennedy beschlossen haben, innerhalb eines Jahrzehntes einen Menschen auf den Mond zu bringen. Eine abgestimmte ökonomische, politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche gemeinsame Anstrengung - die am Ende erfolgreich war. Was wir brauchen, ist eine Mondmission für das Überleben auf dieser Erde.


Christine Heybl, 40, ist studierte Philosophin und hat über Klimagerechtigkeit promoviert. Seit ihrem Buch „Kant und das Klima" ist sie eine gefragte moralische Instanz in Klimafragen - auch im Freundeskreis, wo sie klären soll, ob Haustiere noch erlaubt sind und welcher Brotaufstrich ökologisch korrekt ist. 


Sighard Neckel, 65, ist Soziologe und Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg sowie Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit". Dort beschäftigen sich Sozialwissenschaftler mit Entwicklungspfaden, die in eine Gesellschaft der Nachhaltigkeit führen könnten. 

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