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Aktiv für die Arktis

Dirk Notz zieht einen Bohrkern im Packeis. „Ich dokumentiere eine Landschaft, die verschwindet“, sagt der Hamburger Wissenschaftler.

Kinderuni Vogtland, wegen Corona sitzen die jungen Zuhörer nicht im Hörsaal, sondern vor ihren Bildschirmen. Manche nehmen noch auf dem Schoß von Mama oder Papa Platz. Das Thema: „Das große Schmelzen". Der Referent ist Dirk Notz, Meereisforscher und weltweit anerkannter Experte für den Klimawandel in der Arktis. Ein hartes Thema. Doch statt auf physikalische Grundlagen einzugehen, erklärt Notz den Kids erst einmal fröhlich in breitem Hamburger Kapitänstonfall, dass man sich bei Seekrankheit am besten nicht gegen den Wind übergeben sollte.

„Menno!", ruft der Experte dann und muss selbst ein bisschen kichern. In seiner Präsentation will das Video von seinem Segeltörn durch die Eisschollen rund um Spitzbergen nicht laufen. Dabei sind es gerade solche Aufnahmen, mit denen er seine Zuhörer hautnah mitnehmen will ins Eis.

Es ist ein breiter Spagat zwischen Isotopenmessungen in Eisbohrkernen und Tipps für Seekranke - doch für Dirk Notz macht diese Bandbreite seine Arbeit aus. Er will mit seinen bahnbrechenden Forschungsergebnissen die Gesellschaft mitnehmen. „Dann wird der Veränderungsdruck für Politik und Wirtschaft viel mächtiger", sagt er.

Notz doziert nicht mit erhobenem Zeigefinger. Er lässt die Fakten wirken

Besonders viel Spaß machen ihm Vorträge vor Kindern. „Die sitzen mit leuchtenden Augen da, wenn ich von der Arktis erzähle", sagt Notz. Bei ihnen müsse er aber auch besonders vorsichtig sein. Kinder ließen sich von seinen wissenschaftlichen Fakten so beeindrucken, dass ihre Begeisterung für die Arktis leicht in Angst und Hoffnungslosigkeit umschlagen könne.

„Wer sich manipuliert fühlt, wird sich umso stärker wehren", sagt Dirk Notz. Er leitet die Forschungsgruppe „Meereis im Erdsystem" am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.

Bei Erwachsenen kann er deutlicher werden. Wichtig ist ihm nur, bei den Fakten zu bleiben. „Ich möchte die Menschen durch das Wissen, das ich kommuniziere, befähigen, aktiv Verantwortung zu übernehmen", sagt Notz. Als Aktivist mit erhobenem Zeigefinger sieht er sich nicht. Für individuelle Schlüsse, für Verhaltensänderungen gar, sei jeder Zuhörer selbst verantwortlich, sagt Notz. „Wenn ich versuche, jemanden davon abzubringen, dass er in den Urlaub fliegt, dann kann das auch nach hinten losgehen", erklärt er. „Wer sich manipuliert fühlt, wird sich umso stärker wehren."

Drei Jahre hat er am Klimabericht mitgearbeitet. Um jedes Wort wurde gekämpft

Notz selbst ist seit vielen Jahren nicht mehr in den Urlaub geflogen. Zuletzt hatte sich der 46-Jährige sich im Sommer zwei Wochen ausgeklinkt, beim Wandern im Harz und in den Pfälzer Weinbergen. Er hatte zwar ein Handy dabei, seine Mails und alles andere aber einfach mal komplett ignoriert. Die Notbremse war nötig, nach drei Jahren Mitarbeit am Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC. Der Bericht, dessen erster Teil im August erschienen ist, beschreibt wissenschaftlich penibel auf knapp 4000 Seiten den Zustand der Erde im Zeichen des Klimawandels. Weniger wissenschaftlich formuliert, lautet das Fazit: Alles noch schlimmer als gedacht.

Im Meereskapitel, für das Notz einer der Leitautoren war, findet sich zum Beispiel die Hiobsbotschaft, dass eisfreie Sommer im arktischen Ozean wohl nicht mehr zu verhindern sind. Bis solche Aussagen schwarz auf weiß geschrieben stehen, ist unfassbar viel Abstimmung nötig, berichtet der Hamburger.

„In der abschließenden Plenarsitzung, als es darum ging, die ‚Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger' mit den Delegationen der Länder abzustimmen, haben wir mit den Entscheidungsträgern teilweise zwei Wochen lang Satz für Satz diskutiert und sogar um einzelne Wörter gerungen", erzählt Notz. Rund 20.000 Nachrichten pro Woche seien in dieser Zeit zwischen den Autorinnen und Autoren ausgetauscht worden.

Wenn ich die Rückmeldung bekomme, dass ich etwas bewegt habe, dann gibt mir das sehr viel Dirk Notz

Lieber als digitale Nachrichtenschlachten ist ihm der persönliche Kontakt zu Menschen. Statt sich auf Twitter oder Youtube mit Klimaleugnern herumzuärgern, reist Notz in seiner freien Zeit durch die Republik und hält Vorträge - an Volkshochschulen, für Fridays for Future und immer wieder auch an Schulen. „Wenn ich dort die Rückmeldung bekomme, dass ich etwas bewegt habe, dann gibt mir das sehr viel", sagt er.

Für Jugendliche aus ganz Europa veranstalten der Polarforscher Arved Fuchs und Notz jedes Jahr ein Klimacamp auf hoher See. Im nächsten Sommer soll der Segeltörn nach einer Coronapause wieder die Entscheidungsträger von morgen für die Klimaforschung begeistern. „Das hinterlässt tiefe Spuren bei den Jugendlichen und für viele sind diese Eindrücke auch entscheidend bei der späteren Berufswahl" erzählt Notz stolz.

Für Dirk Notz geht nach der Mammutaufgabe Weltklimabericht gerade die normale Arbeit wieder los: Seminare an der Uni Hamburg, Forschung am Max-Planck-Institut für Meteorologie. Im Januar fliegt er wieder nach Spitzbergen. Vor 20 Jahren war er zum ersten Mal dort, verbrachte als Student ein Auslandsjahr in Svalbard, der nördlichsten Uni der Welt. Sein Professor hatte damals für ihn renommiertere Hochschulen im Auge und war enttäuscht über die Entscheidung. Notz ist froh, dass er auf Spitzbergen bestanden hat, die Landschaft ist ihm ans Herz gewachsen - und hat seinen beruflichen Lebensweg bestimmt. Ein- bis zweimal im Jahr sucht er die Nähe der Eisbären.

Augenzeuge des Klimawandels: Dirk Notz auf einer Eisscholle nördlich von Spitzbergen. Das Foto wurde von der „Dagmar Aaen" aus aufgenommen, dem Segelschiff des Abenteurers Arved Fuchs.

Doch seine Arktis ist eine Landschaft, von der er sich verabschieden muss. „Wenn ich Kindern Bilder zeige, von dieser Gegend aus Eis und ich weiß: Das Weiß wird irgendwann nur noch ein matschiges Braun sein, dann ist das schon sehr traurig. Ich dokumentiere eine Landschaft, die verschwindet."

Es sind dennoch nicht die traurigen Momente, die hängenbleiben bei seinen Zuhörern. Der Forscher arbeitet nicht mit Angst und Schrecken. Stattdessen kann er einfach wahnsinnig gut erklären. Egal, ob in 90 Sekunden, in fünf Minuten oder auch in einer Stunde: Er packt die Grundlagen der Klimakrise so klar auf den Tisch, das alles ganz einfach wirkt. Die Kernthesen sind immer gleich:

Der Klimawandel ist real. Wir sind die Ursache. Er ist gefährlich. Expertinnen und Experten sind sich einig. Es gibt (noch) Hoffnung.

Diese Hoffnung will Notz sich auch noch nicht nehmen lassen. Die Erde wird die Klimakrise irgendwie verkraften, ist er sicher. Auch für den Menschen sieht er noch Chancen. „Ich finde, der Mensch ist eine ganz wunderbare Spezies", sagt Notz und lächelt. Es wäre doch eine schöne Sache, wenn wir sein Überleben auf der Erde sichern könnten.

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