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Die Erdgasfalle

Nach dem Atom- und Kohleausstieg muss Erdgas die Lücke füllen, sagen der Bund und die Gasindustrie. Energieforscher halten dagegen: Jeder Euro, der in Gas statt in Erneuerbare fließt, sei verschwendet. Ist Erdgas Teil der Lösung oder Teil des Problems? Eine Analyse.


Von Julia Graven

In Krummendeich ist die Welt noch in Ordnung. Hier sorgt es schon für Aufsehen, wenn auf der einzigen Straße ein fremdes Auto an den Höfen vorbeifährt, die sich hinter dem Elbdeich aufreihen. Wer auf den Deich steigt, schaut über den Fluss auf eine ganze andere Welt: Gegenüber liegt die Kleinstadt Brunsbüttel mit Industriehafen, Sondermüllverbrennungsanlage, Chemiewerken, Raffinerie und einem Kernkraftwerk, das gerade abgebaut wird. Die Brennstäbe lagern noch in den Castoren nebenan.

Bald soll diese Industriewelt weiter wachsen. Investoren planen in Brunsbüttel den Bau von Tanks, die mit 60 Metern so groß wie Hochhäuser wären. Sie sollen bis zu 240.000 Kubikmeter verflüssigtes Gas (LNG) fassen, das Spezialtanker aus aller Welt liefern - wenn es nach Donald Trump geht, vor allem aus Fracking-Gasfeldern in den USA.

Die Verkehrs- und Wärmewende steigern den Energiebedarf. Eine Chance für Gas?

Es ist der Versuch der alten, fossilen Energiewelt, ihr Geschäft in die neue Zeit zu retten. Wenn Kohle- und Atomkraftwerke bald keine Energie mehr produzieren, so ihr Argument, wird Deutschland viel mehr Gas als heute brauchen. Schließlich gebe es noch nicht genügend Ökostrom für all die Elektroautos und Wärmepumpen, die gebraucht werden, um Wohnungen und den Verkehr klimaneutral zu machen. Und da die Niederlande, nach Russland und Norwegen der wichtigste Gaslieferant für Deutschland, 2022 im Eiltempo aus der Förderung aussteigen, seien dringend neue Importquellen nötig.

EU-Umweltpolitiker halten dagegen: Projekte wie Nord Stream 2 oder LNG-Terminals in Brunsbüttel, Stade oder Wilhelmshaven führten direkt in eine „Erdgasfalle" - denn mit den milliardenschweren Investitionen werde die Energieversorgung auf Jahrzehnte zementiert. Es drohe ein „fossiler Lock-in", warnen auch deutsche Umweltverbände in einem Brief an den Bundeswirtschaftsminister.

Und die energiepolitische Sprecherin der Grünen, Julia Verlinden, sagt im Interview mit EnergieWinde: „Flüssigerdgasterminals verlängern das fossile Zeitalter. Ziel einer zukunftsorientierten Energiepolitik muss es daher sein, den Neubau solcher Anlagen in Deutschland zu verhindern."

Erdgas soll die Brücke in die CO2-freie Welt sein. Die Frage ist, für wie lange

Die Lobby dagegen preist Erdgas als „Brückentechnologie". Es ist ein Argument, das viele Politiker in Deutschland und Europa aufgreifen. Die Frage ist allerdings, was für eine Brücke das ist, an die sie dabei denken. Ein massives Bauwerk, ausgerichtet auf jahrzehntelangen Gebrauch und zunehmenden Verkehr? Oder eher ein Behelfsbrückchen, gedacht für kurze Zeit und gesperrt für den Schwerlastverkehr?

Aktuell plant die Gasindustrie allein in Deutschland Investitionen in Höhe von 14 Milliarden Euro, hat das Recherchenetzwerk Investigate Europe ausgerechnet. Gehört dem Erdgas also die Zukunft - oder ist es ein Auslaufmodell?

Nach Öl war Gas im vergangenen Jahr der zweitwichtigste Energieträger in Deutschland.

So erbittert der Streit über die künftige Rolle von Erdgas ist, so unstrittig ist die aktuelle Situation: Ein Viertel des deutschen Primärenergieverbrauchs wird derzeit mit Gas gedeckt. Nach Erdöl ist es der zweitwichtigste Energieträger. Der größte Teil des Gases geht in die Industrie, zum Beispiel als Prozesswärme bei der Herstellung von Stahl, Chemie oder Zement. Sie ist für 38 Prozent des Gasverbrauchs verantwortlich. Ein knappes Drittel geht in die Gebäudewärme. Für die Stromerzeugung spielt es eher eine Nebenrolle: Nur 13 Prozent des Stroms wird aus Erdgas gewonnen.

Die Versorgung mit Erdgas läuft im Wesentlichen über Importe. Je ein Drittel kommt aus Russland und Norwegen, die Niederlande liefern noch 27 Prozent. „Deutschland und Europa sind gut mit Erdgas versorgt, das zeigt sich auch an der hohen Auslastung der europäischen Gasspeicher, die zu Beginn der Heizperiode nahezu vollständig gefüllt sind", sagt Kai Eckert von der Fachzeitschrift „Energie Informationsdienst". Er sieht „keine Engpässe in der Gasversorgung".

Verglichen mit Öl und Kohle gilt Gas als klimafreundlich. Doch das ist umstritten

Unstrittig schien bisher auch, dass Erdgas deutlich klimafreundlicher ist als Erdöl oder Kohle. So erzeugt laut dem Umweltbundesamt (PDF) ein Braunkohlekraftwerk bezogen auf den Stromverbrauch 1137 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde Strom, bei einem Steinkohlekraftwerk sind es 835 Gramm und bei einem Gaskraftwerk nur 399 Gramm. Aktuell rütteln allerdings einige Experten am klimafreundlichen Image von Erdgas: Sie sagen, das eigentliche Problem könnte Methan sein, nicht Kohlendioxid.

Methan ist 25-mal so klimaschädlich wie CO 2. Schon kleinere Lecks, wie sie beim Fracking vorkommen, machen die Klimabilanz von Erdgas daher zunichte, sagen Wissenschaftler.

Der Bremer Atmosphärenphysiker John Burrows etwa misst mit Satelliten die Treibhausgasemissionen dort, wo Erdgas mit Fracking gefördert wird. Er sagt im Gespräch mit EnergieWinde: „Beim Fracking kommt es immer zu Lecks, die Methan freisetzen." Eine Leckage von zwei bis drei Prozent reiche aus, um den Vorteil von Erdgas gegenüber der Kohle zunichte zu machen.

Für den Methanexperten Robert Howarth von der Cornell University im US-Bundesstaat New York ist vor allem Flüssigerdgas aus Klimasicht „sehr, sehr schlecht, vielleicht sogar entsetzlich". Der Treibhausgaseffekt von LNG sei größer als der von normalem Erdgas und deutlich größer als der von Kohle und Erdöl. Die EU arbeitet aktuell an einer europäischen Methanstrategie, um die Emissionen zu stoppen. Ein Gesetzesvorschlag soll 2021 kommen.

Der Bund erwartet einen höheren Gasbedarf. Auf Basis einer Gazprom-Prognose

Noch in diesem Jahr will die EU-Kommission die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen von 40 auf 55 Prozent für 2030 anheben. Unbeeindruckt davon nimmt die Bundesregierung weiter an, dass Erdgas an Bedeutung gewinnen wird, weil Kernkraft und Kohle aus dem Energiemix fallen. Die Elektrifizierung von Verkehr, Wärme und Industrieprozessen werde vor allem den Strombedarf aus Erdgas steigen lassen, heißt es in Berlin. Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass in Europa in Zukunft pro Jahr mindestens 100 Milliarden Kubikmeter mehr Erdgas gebraucht würden.

Allerdings verlässt sich die Regierung bei dieser Einschätzung wohl ausgerechnet auf die Zahlen derjenigen, die mit Erdgas ihr Geld verdienen: Sie basiert auf Annahmen einer Tochter des russischen Konzerns Gazprom und des europäischen Verbands der Fernleitungsnetzbetreiber ENTSOG. Eigene Prognosen der Bundesregierung zur angeblichen Gaslücke gibt es offenbar nicht.

Die heute bereits bestehenden Infrastrukturen für Erdgaslieferungen in die EU sind stark überdimensioniert Felix Matthes, Energieforscher am Öko-Institut Berlin

Viele Analysten sehen das anders. Selbst wenn in den nächsten Jahren mehr Strom aus Erdgas benötigt werde, seien keine zusätzliche Investitionen in Importkapazitäten nötig. Denn schon die derzeitigen Gaspipelines und LNG-Terminals seien nicht ausgelastet.

Die heute bereits bestehenden Infrastrukturen für Erdgaslieferungen in die EU sind stark überdimensioniert, erklärte Felix Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut Berlin, in einem Gastbeitrag für „Die Zeit". Besser gedämmte Gebäude, effizientere Heizungen und Einsparungen in der Industrie würden dazu führen, dass die Nachfrage nach Erdgas sinkt. Seiner Meinung nach liegen die „im heutigen politischen Umfeld erwartbaren Erdgaseinsparungen im Wärmesektor weit über dem zeitweisen Zusatzbedarf in der Stromversorgung."

Seine Kollegin Claudia Kemfert vom Wirtschaftsforschungsinstitut DIW sagt schon seit Jahren, dass weder Nord Stream 2 noch Flüssiggasterminals nötig seien: „Nach unseren Berechnungen nimmt der Erdgasbedarf ab." Die Infrastruktur mit Nord Stream 1 und den Pipelines durch Osteuropa genüge vollkommen. Erdgas, sagt Kemfert, sei keine Brückentechnologie, sondern „eine Brücke ins Nichts und das muss man auch so deutlich benennen."

Zumal der steigende Bedarf immer nur ein Szenario für einige Jahre sei, mahnt Experte Eckert vom „Energie Informationsdienst": „Ab 2025 werden wir auch den Erdgasbedarf regulieren müssen, denn sonst werden die Pariser Klimaziele nicht mehr erreicht werden können."

Das Umweltbundesamt erwartet den Gasausstieg zwischen 2040 und 2050

Das Umweltbundesamt hat die Klimaschutzszenarien verglichen, die davon ausgehen, dass sich die Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent reduzieren. Das Fazit: In allen Szenarien gibt es „einen erheblichen Rückgang der Gasverbräuche" (PDF). Nach einem kontinuierlichen Rückgang bis 2040, erwarten die Forscher zwischen 2040 bis 2050 einen nahezu vollständigen Ausstieg aus fossilem Erdgas.

Der Bau von Gaspipelines verlängert das fossile Zeitalter unnötig, sagt Julia Verlinden (Grüne).

Wenn es nach den Klimaforschern geht, ist die Situation eindeutig: Europa muss raus aus Kohle, Öl und Gas, so schnell wie möglich. Also eher das Modell „kleine Fußgängerbrücke". Zudem fehlt jeder Euro, der in fossile Infrastruktur fließt, beim Ausbau der regenerativen Energien.

Statt in Gasterminals sollte in Wasserstoff investiert werden, sagt Julia Verlinden

Die Energiepolitikerin Verlinden von den Grünen plädiert dafür, das anders anzulegen: in „Aufbereitungsanlagen für Biomethan oder in die Speicherung und Transport von Wasserstoff, der unter Einsatz von Ökostrom erzeugt wurde." Wie schnell und wie weitreichend grüner Wasserstoff oder Biomethan Erdgas ersetzen können, ist aber offen. Denn erst einmal muss geklärt werden, wie die enormen Mengen an erneuerbaren Gasen oder Strom dafür produziert werden - in Deutschland oder im Ausland.

In Brunsbüttel an der Elbe ist die Zukunft des Flüssigerdgases noch offen. Die grüne Zukunft ist aber schon angekommen. Rund um das strahlende Erbe der Vergangenheit stehen Windräder. Und wenn zu viel Strom im Netz ist und die Windräder eigentlich abgeschaltet werden müssten, wird daraus Wasserstoff produziert. Der wird ins Gasnetz eingeleitet und kann auch getankt werden. Denn in Brunsbüttel am Holstendamm steht eine der ersten Wasserstofftankstellen Schleswig-Holsteins.

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