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Festival „Filmz" in Mainz: Suche nach dem Leben

Die Augen sind es, die einen nicht mehr loslassen. In ihnen stehen so viel Schmerz und eine solche Erschöpfung, dass sie vollkommen ausdruckslos wirken, beinahe, als wären sie tot. Am Wochenende konnten die Zuschauer von „Filmz - Festival des deutschen Kinos", das in diesem Jahr ausschließlich digital stattfindet, erstmals auf den Dokumentarfilm „Forgotten on Sinjar" zugreifen. Wegen der Corona-Pandemie hatten die Organisatoren des Mainzer Festivals sämtliche Vorführungen auf die Streamingplattform „Alles Kino" verlegt. Nachdem zunächst eine Hybridveranstaltung mit reduziertem Publikum und gleichzeitigem Streaming geplant gewesen war, mussten die Veranstalter aufgrund des Lockdowns kurzfristig umplanen. Das Festival für Cineasten jeder Couleur dauert noch bis zum 14. November.

Ein Motiv, das in den ersten Tagen gleich mehrere Filme auf unterschiedliche Weise aufgriffen, war die ersehnte Flucht vor der eigenen Realität. „Forgotten on Sinjar" zeigt die Geschichte jesidischer Flüchtlinge, die nach dem Genozid durch die Terroristen des „Islamischen Staates" dazu gezwungen sind, ein neues Leben zu beginnen. Der kanadische Regisseur Igal Hecht hat die Hamburgerin Emma Broyan bei ihrem humanitären Einsatz für die Frauen und Kinder der Jesiden fünf Jahre lang begleitet, in griechischen Flüchtlingslagern und in Deutschland. Am Ende des Langzeitprojekts steht eine einfühlsame Dokumentation, die die Zuschauer mit ungeahnter emotionaler Wucht dazu zwingt, hinzusehen und nicht zu vergessen.

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Broyan ist selbst Jesidin armenischer Herkunft. In einer der ersten Szenen bringt sie auf den Punkt, was damals, 2014, die ganze Welt gedacht hat, als die brutalen Hinrichtungsvideos im Internet zu kursieren begannen: „Ich habe gedacht, ich sehe einen Horrorfilm." Im Verlauf der Dokumentation wird klar, dass dieser Horrorfilm für seine Protagonisten noch lange kein Ende gefunden hat. Broyan ist immer unterwegs, fährt mit dem Auto durch Griechenland und dem Zug durch die Bundesrepublik, das Handy in der einen Hand, ein Klemmbrett in der anderen.

Was es bedeutet, tagtäglich mit brutalem, unvorstellbarem Leiden konfrontiert zu werden, mit der Enthumanisierung von Tausenden Frauen und Mädchen, die verschleppt, vergewaltigt und verkauft wurden, zeichnet sich in ihrem Gesicht immer mehr ab. Die zurückhaltende Frau wirkt müde, oft stehen ihr Tränen in den Augen. In ihren Gesprächen macht sie sich ständig Notizen. „Was wird gebraucht?" Die Frage funktioniert wie ein Rettungsanker im Angesicht des Grauens. Den Frauen gibt sie Halt, während Trauma und Angst eine glücklichere Zukunft erschweren. Broyan wird erst dadurch zur Aktivistin, dass sie diese Frage stellt.

Das erlösende Lachen bleibt im Halse stecken

Halt sucht auch Joscha, Protagonist von „Lichter der Stadt", dem jüngsten Werk des Regisseurs und Festivalpaten Malte Wirtz, mit dem „Filmz" eröffnet wurde. Gefilmt in einem einzigen Take, folgt die Kamera Joscha durch eine Winternacht am Kölner Rheinufer. Der Endzwanziger ist allein und angespannt. Er kauft sich Drogen und wird durch Zufallsbegegnungen davon abgehalten, sie zu nehmen. In der Einfachheit des Plots liegt die Stärke des Films. Es braucht manchmal nicht viel, um in Geschichten hineingezogen zu werden. Der Hauptdarsteller Tim-Fabian Hoffmann versteht es, Joschas Verzweiflung unaufgeregt Ausdruck zu verleihen. In belanglosen Gesprächen mit alten Bekannten scheinen immer wieder ungelöste Konflikte auf, die mit einem Scherz oder einem dummen Spruch beiseitegewischt werden. Wie eine Allegorie auf die Vergangenheit, die er am liebsten abschütteln würde, hängen sich seine Bekannten an ihn, halten ihn beinahe im Klammergriff. Für einen kurzen Moment schafft er es, sich zu befreien, nimmt die Droge und übergibt sich nach einem kurzen High. Zurück bleibt Leere. Durch die Begegnung mit einer Fremden findet Joscha schließlich die Kraft, sich von seinen Bekannten zu lösen. Das erlösende Lachen am Ende verspricht einen Neuanfang.

Beim dreißig Minuten langen Film „Masel Tov Cocktail" von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch bleibt dem Zuschauer das erlösende Lachen hingegen fast im Halse stecken. Die Filmschaffenden porträtieren den jungen russischen Juden Dimitrij Liebermann, der sich in seiner Ruhrpott-Heimat mit familiären Konventionen, Vorurteilen und dem Verhältnis der Deutschen zum Antisemitismus auseinandersetzen muss. Khaet und Paatzsch setzen das humorvoll und entlarvend um. Zu Beginn bricht Dimitrij einem Mitschüler die Nase, der ihn antisemitisch beleidigt hat. Er muss sich entschuldigen. „Verfickte Täter-Opfer-Umkehr", flucht er in die Kamera.

Auf seinem Weg durch die Stadt wird er angesichts einer Fülle von Begegnungen immer wütender. Sein Credo „Ich bin kein aggressiver Typ" stößt er zunehmend gereizt hervor. Er begegnet Teenagern, die sich beim Tanzen vor einem Schoa-Gedenkstein filmen, einer Lehrerin, die sich, völlig gehemmt, nicht dazu überwinden kann, das Wort „Jude" in den Mund zu nehmen, und schließlich einem Stand der AfD. „Masel Tov Cocktail" ist aber nicht nur ein bissiges Gesellschaftsporträt, sondern koloriert auch eine jüdische Filmfigur. Wie Dimitrij es gleich zu Anfang sagt: In den meisten Filmen sind Juden passive Opfer, schwarz-weiß, von oben herab gefilmt. Dimitrij hat Farben, Facetten, gute und schlechte Seiten. Das ist die eigentliche Leistung des Films.

Neben Dokumentar- und Langfilmen nehmen auch mittellange Filme an dem Festival teil. Am 11.November findet zudem ein Kurzfilmwettbewerb statt. Wer zuschauen möchte, muss sich zuvor bei „Alles Kino" registrieren. Wie im Kino sind die Filme jeweils von einer bestimmten Uhrzeit an verfügbar, im Gegensatz zum Kino sind sie es 48 Stunden lang. 

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