Geblümte Kleidchen, feine Stoffhosen, Bikinihöschen mit angenähten Röcken: Im Modekatalog von Bonprix findet man alles Mögliche. Aber mal wieder keine passenden Schuhe, stellen die Anwesenden resigniert fest. Das Grüppchen, das an diesem Sonntagnachmittag Cappuccino und Cola in dem Stuttgart er LSBTTIQ-Zentrum Weißenburg trinkt, besteht aus Frauen, die trans sind. Und die meisten haben zu große Füße für die Schuhe, welche für Damen angeboten werden. Als würde ihnen der Katalog mitteilen: Ihr entsprecht nicht der Norm.
Rund 20 Jahre gewartet bis zum Outing
Nach dem ersten Treffen in der Weißenburg erklären sich Sonja Matusek (39) und Tanja Gemeinhardt (42) bereit, ihre ganze Geschichte zu erzählen. Vier Stunden lang beantworten sie auch intime Fragen, lassen sich fotografieren und willigen ein, mit richtigem Namen in der Zeitung zu stehen. Dabei ist es noch nicht lange her, da war die größte Sorge der Stuttgarterinnen, dass jemand rausfinden könne, wer sie wirklich sind.
Für ihre Umwelt lebten sie als Männer. Fast 20 Jahre hat es gedauert, bis sie Familien, Freunde, Chefs und Kollegen in ihre wahre Identität einweihten. Sie sind auf dem Dorf groß geworden, haben mit ihren Gedanken gehadert, Angst empfunden. Als Tochter eines Rektors und CDU-Anhängers sowie einer Kirchengemeinderätin wuchs Tanja Gemeinhardt in einem konservativen Elternhaus in Möglingen auf. „Ich wurde schwäbisch erzogen: brav sein, keinen Mist bauen, nach außen soll alles gut aussehen.“
Schwäbisch und konservativ erzogen
Als Tanja Gemeinhardt mit 19 fürs Studium nach Nürnberg zog, weit weg von zu Hause, besuchte sie erstmals eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die trans sind. Sie lernte andere Transgender kennen, fing an, sich mal zu schminken oder als Frau zum Fasching zu gehen. Tagsüber lebte sie aber weiterhin als Mann. Erst auf einer Party 2019 riet ihr jemand, Hormone auszuprobieren. Sie fing mit der Behandlung an, „und plötzlich hat meine innere Uhr aufgehört zu ticken.“ Bis dahin hatte sie das Gefühl, ihr Leben zu verpassen. Sie ließ sich Hormone verschreiben, „und ich merkte: Das ist mein Weg“. Am 23. September 2020 änderte sie ihren Vornamen zu Tanja. Innerlich sei sie aber Mann und Frau: „Meine Seele ist geschlechtlos.“
Der Hausarzt war „völlig planlos“
Sonja Matusek beschäftigte sich erst mit Beginn der Coronapandemie, als sie nicht mehr jeden Tag von Kollegen im Büro gesehen wurde, mit einer Transition, also dem Anpassungsprozess hin zu ihrer Geschlechtsidentität. Im Januar 2021 sprach sie ihren Hausarzt an, „doch der war völlig planlos“. Sie wurde zum Urologen weitergeschickt, bekam dort weibliche Hormone verschrieben. Parallel suchte sie sich zwei Gutachter, die bezeugten, dass sie trans ist.
Sollte das neue Selbstbestimmungsgesetz so kommen, wie es vorgestellt wurde, sind Gutachter nicht mehr nötig. Dann könnte der Geschlechtseintrag durch eine Erklärung beim Standesamt geändert werden. „Längst überfällig“ sei dies, findet Sonja Matusek. Derzeit müssten Transgender zwischen 1500 und 2000 Euro für die Gutachten und an ein Gericht bezahlen. „Und man muss Unbekannten sehr private Details erzählen – immer mit der Angst, dass einem nicht geglaubt wird.“ Dass Menschen durch das neue Gesetz ihren Geschlechtseintrag künftig nach Lust und Laune ändern könnten, hält sie für abwegig. Die Statistik aus Ländern mit Selbstbestimmungsgesetz zeige das. Der Anteil der Menschen, die eine Transition rückgängig machen, liegt laut Schätzungen bei einem bis zwei Prozent.
Reaktionen im Büro durchweg positiv
Der Grund für das lange Zögern vor dem Outing war bei Sonja Matusek auch die Angst vor den Reaktionen der Kollegen. Im November 2021 nahm die Elektroingenieurin bei Bosch ihren Mut zusammen, informierte zunächst ein paar Chefs und Kollegen, dann schickte sie eine Mail an einen großen Verteiler. Sie wisse, dass sie seit der Kindheit trans sei und wolle dies nun auch ausleben, darum nutze sie einen neuen Namen und eine neue Mailadresse. Sie stellte sich auf das Schlimmste ein. Und wurde überrascht von viel positivem Feedback. Der schlimmste Spruch war bisher: „Ach du gütiger Gott!“
Auch Tanja Gemeinhardt erlebt wenig Negatives, obwohl sie mit ihren 1,93 Metern auffällt. Doch die Größe sei auch Vorteil: „Böse Sprüche traut man sich bei mir nicht.“ Das war anders, als sie kürzlich mit anderen Transgender in Polen war. Die Gruppe wurde mehrfach beschimpft und bedroht.
Als trans Frau gibt man die Privilegien eines Mannes auf
Janka Kluge aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) weiß, warum trans Frauen im Schnitt länger vor einer Geschlechtsanpassung zögerten als trans Männer. Zum einen würden bei trans Männern die Hormone schnell Bartwuchs und eine tiefere Stimme bewirken. Zum anderen würde das Umfeld anders reagieren: „Ein Mann im Kleid führt eher zu Irritationen als eine Frau in Jeans und Herrenhemd.“ Trans Männer fallen auf den ersten Blick einfach weniger auf als trans Frauen.
Außerdem sei da auch noch der Sexismus. „Wenn man als Mann erfolgreich im Job war und sich dann als trans Frau outet, geht es nicht einfach so weiter“, weiß Janka Kluge. „Man überlegt sich sehr lange, ob man freiwillig die Privilegien eines Mannes aufgibt“, bestätigt Tanja Gemeinhardt. Sonja Matusek merkt, dass sie im technischen Umfeld nun öfter unterschätzt werde. Und plötzlich würden sie Fremde duzen, „das ist mir früher nicht passiert“. Zudem müsse sie anderen nun öfter ausweichen, etwa am Bahnsteig.
Hormonbehandlung hat unschöne Nebenwirkungen
Auch die Einnahme von weiblichen Hormonen hat nicht nur schöne Folgen wie weichere Haut oder weniger Haarwachstum am Körper. Die Nebenwirkungen klingen ähnlich wie jene der Pille: höheres Thromboserisiko, Wassereinlagerungen, mögliche Leberschäden, Knotenbildung in der Brust.
Und dazu kommen noch die größeren Stimmungsschwankungen und die viel heftigeren Emotionen. „Manchmal muss ich fast heulen, nur weil ich das Bild eines Delfins sehe“, sagt Sonja Matusek und muss lachen. Tanja Gemeinhardt formuliert es so: „Ich fühle mich, als wäre ich mit 42 Jahren wieder in der Pubertät.“
Und wie ist das mit Liebe und Sexualität? Zu welchem Geschlecht fühlen sich trans Frauen hingezogen? Einige sind weiterhin mit (ihren) Frauen zusammen, Tanja Gemeinhardt interessiert sich für „alle tollen Menschen“, sagt sie. Auch als sie noch als Mann lebte, hatte sie mal was mit einem Mann. „Aber es hat mich nicht geflasht, dass er mich als Mann attraktiv findet.“ Sie wollte als Frau begehrt werden.
In den Gesprächen wird klar: Eine Geschlechtsanpassung ist ein Prozess, der Zeit braucht und schmerzhaft ist. Die meisten wüssten mit Einsetzen der Pubertät, dass sie trans sind, sagt Janka Kluge, „aber nur die wenigsten können damit umgehen“. Viele würden ihre Transition beginnen, wenn sie eine Familie gegründet hätten und sich dann eingestünden: Ich kann nicht anders. Tanja Gemeinhardt sagt heute: „Manchmal ärgere ich mich über die verlorenen Jahre.“
Beim CSD ist Tanja Gemeinhardt voll dabei
Am Wochenende ist für solche trüben Gedanken keine Zeit: Dann steht der Christopher Street Day (CSD) in Stuttgart an. Und während Sonja Matusek das Festival verpasst – ein Rammstein-Konzert in Schweden geht vor –, ist Tanja Gemeinhardt voll dabei. Als Ansprechpartnerin der Mission Trans, eines Zusammenschlusses mehrerer Organisationen für trans Personen in Stuttgart, läuft sie bei der Parade mit, sonntags steht sie am Infostand an der Kirchstraße.
Zwischendurch will sie feiern. Bestimmt mit tollen Kleidern. Die Suche nach schönen und hochwertigen Damenschuhen in Größe 46 hat sie vorerst aufgegeben.