Kalle war Querdenker. Der Stuttgarter hat auf Demos gegen Politiker gehetzt. Er hatte Todesangst vor der Impfung und hat geglaubt, dass in Masken Würmer krabbeln. Er hat die Szene verlassen, doch die Angst bleibt. Plötzlich geht es um Putin.
Stuttgart - Kalle und Dieter sitzen vor einem Lokal am Stuttgarter Feuersee, rauchen selbst gedrehte Zigaretten und trinken Espresso. Den beiden Männern ist schon so viel Leid widerfahren, dass es für mehrere Leben reichen würde. Doch für diesen Moment ist alles in Ordnung. Sie beobachten einen Schwan, der neben ihnen auf einer Stufe Platz genommen hat. „Das ist natürlich kein Zufall, dass der Schwan sich zu uns gesetzt hat", sagt Kalle. Er glaubt an göttliche Zeichen, an Liebe, an Versöhnung. Das war nicht immer so. Kalle war Querdenker. Und gewaltbereit, wie er sagt.
Rund acht Stunden täglich hat Kalle sich Videos rund um Corona reingezogen. Von Bodo Schiffmann zum Beispiel, „dem habe ich alles geglaubt“. Schiffmann gilt als eine Führungsperson in der Coronaleugner-Szene. Kalle war auch überzeugt, dass ihm durch die Impfung ein Chip implantiert werde und er sterben müsse. Er hat Videos für bare Münze genommen, in denen erklärt wird, dass in Masken Würmer krabbeln. Er hat auf Demonstrationen gebrüllt, dass der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein „Verbrecher“ und „Lügenbaron“ sei, die damalige Kanzlerin Angela Merkel nicht nur weg, sondern „hängen“ müsse. Er hat Leute angeschrien, was sie mit ihrer „Scheißmaske“ wollen und dass „Corona doch eh nicht existiert“.
Man müsse aufeinander zugehen, sagt Kalle
Heute spricht Kalle von einer Spaltung in der Gesellschaft, die nur dadurch behoben werden könne, dass man aufeinander zugehe. Kürzlich ist er in der S-Bahn einer Frau begegnet, die klar der Querdenkerszene zuzuordnen war: „Die hat nur geschwätzt.“ Er sagte zu ihr, dass er sie jetzt umarmen werde. Die Frau ließ es zu. „Es geht um die kleinen Gesten.“
Eigentlich heißt Kalle anders, den Namen hat er sich ausgesucht. Er hat Angst, dass er in der Szene als Verräter angesehen wird. Was man schreiben darf: Kalle ist 58 Jahre alt und Stuttgarter. Und Kalles Leben war nie einfach.
Nach Selbstmordversuchen landet er in der Psychiatrie
Als Sohn einer Prostituierten und eines Alkoholikers wurde Kalle als Baby seinen Eltern weggenommen. Er wurde in Heimen und bei Pflegefamilien groß. „Ich war wie ein Paket, das hin- und hergeschoben wird.“ Und er hat in den teils strenggläubigen Häusern alles erlebt, was man sich nur vorstellen kann, was ein Kind in den 60er und 70er Jahren erlebt, das früh als „verhaltensgestört“ eingestuft wird. In einem Heim wird er vier Tage lang im Klo eingesperrt. Nur zum Schlafen darf er raus, vorher wird er mit einem Kleiderbügel verprügelt. Seither hat er Angst vor engen Räumen.
Er beginnt zu rebellieren. Mit 14 Jahren trinkt er zum ersten Mal Alkohol. Drogen kommen dazu, zuerst Haschisch, später härtere Sachen. Nebenher versucht er, „Mädle aufzureißen“. Er schließt sich einer Sekte an, mischt in einem Rockerclub mit, es folgt immer mehr Gewalt. „Mich hat alles so angekotzt.“ Zweimal versucht er, sich umzubringen, beide Male wird er gefunden. Nach dem zweiten Selbstmordversuch kommt er in eine psychiatrische Klinik. Es werden noch viele weitere Aufenthalte folgen.
Kurz vor dem Pandemieausbruch hört Kalle auf zu arbeiten
Im Jahr 2020 ist Kalle zwar längst von den berauschenden Drogen weg, dafür aber spielsüchtig. In einer Selbsthilfegruppe lernt er Dieter kennen, zehn Jahre älter als er und ihm in vielem ähnlich. Dieter hatte auch Alkohol- und Drogenprobleme, war zwischenzeitlich im Gefängnis. Dieter überredet Kalle dazu, in einem Chor mitzusingen. Kalle zeigt Dieter, dass das Schießen im Schützenverein wie Meditation sein kann. Sie werden Freunde. Und sie bleiben Freunde, auch als Kalle sich in eine Richtung entwickelt, die für Dieter schwer zu ertragen ist.
Kurz bevor die Pandemie ausbricht, hört Kalle auf, als IT-Fachmann zu arbeiten. Wegen seiner jahrelangen Drogensucht hat er so starke Nervenschädigungen, dass er für erwerbsunfähig erklärt wird. Plötzlich hat Kalle viel Zeit. Zu Hause mit seiner Frau ist es nicht immer einfach. Dann fallen auch noch die Treffen mit Freunden weg, das Training im Schützenverein. Er fällt in ein Loch.
Er bekommt Videos geschickt von Freunden und alten Schulkameraden, in denen das Coronavirus geleugnet wird, Politiker für verrückt erklärt und scheinbar einfache Wege aus der Krise aufgezeigt werden. Und Kalle bekommt eine Aufgabe zugewiesen: Er soll all diese Videos in einem Archiv speichern, bevor Youtube sie löscht. Dafür wird von Menschen aus der Querdenkerszene bezahlt. Heute sagt er: „Ich hatte zu viel Zeit, zu viel Langeweile, habe nach etwas gesucht.“
Manche machten nur aus Langeweile mit
Er nimmt an immer mehr Demos in der ganzen Republik teil, an Autokorsos, an Schweigemärschen. Mit Fackeln ziehen er und seine Mitstreiter durch die Städte. Kalle ist mittendrin, schreit immer wieder: „Frieden! Freiheit! Demokratie!“
Kalle betont, was alle Studien über die Querdenkerszene sagen: Die Demoteilnehmer kämen aus den unterschiedlichsten Milieus. „Nicht alle Querdenker sind verquirlt.“ Da gebe es die Hardcore-Impfgegner: „Die haben oft einfach Angst“, sagt er. Andere hielten Corona für einen Vorwand, dass Politiker und die Pharmaindustrie mehr Macht erhielten. Wieder andere hielten die Schutzmaßnahmen gegen das Virus für falsch. Manche seien Mitläufer und machten aus Langeweile mit.
Querdenken als eine weitere Sucht
Für Dieter ist Kalles Querdenkerzeit anstrengend. Plötzlich redet sein Freund nur noch über ein Thema: Corona. Dieter will ihn aber nicht zu Demos begleiten oder die Videos anschauen. Er versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen, Impulse zu setzen. „Für mich war klar: Das braucht Zeit.“ Dieter erinnert sich, wie ihm Kalle im Frühjahr 2021 Krokusse zeigte. Da wusste er, dass sein Freund auf einem guten Weg ist. „In der Sucht hat man keinen Blick für etwas anderes. Für Kalle war Querdenken eine Sucht.“
Bei der Impfung bekommt er eine Panikattacke
Im Sommer 2021 kaufen sich Kalle und Dieter für wenig Geld ein Auto. Sie teilen sich die Versicherung und das Benzin. Und dann geht es los: mit Vesperbroten und Kaffee quer durch Süddeutschland. Unterwegs besuchen sie auch mal eine Kirche. „Ich war schon früher gläubig, aber habe Gott auch immer wieder angeklagt“, sagt Kalle. Heute ist er überzeugt: Gott hat ihm Dieter geschickt. „Ohne einander würde es nicht gehen.“ Bei Kalle wird offenbar alles extrem: früher die Drogen und die Gewalt, dann der Widerstand gegen die Coronapolitik, heute der Glauben – und vielleicht auch die Verbundenheit mit Dieter.
Am 9. September 2021 lässt Dieter sich impfen. Kalle begleitet ihn – und bekommt eine Panikattacke. „Plötzlich lief wieder der Film in meinem Kopf ab, wie der RKI-Chef Wieler alle Menschen durchimpft, als wäre er ein Tierarzt und wir die Viecher.“ Kalle landet in der Notaufnahme. Drei Wochen später traut er sich dann tatsächlich, sich impfen zu lassen. Vorher hat er Tavor bekommen von seinem Psychiater, „aber ich habe sie nicht gebraucht“. Er sagte sich: „Ich lege jetzt alles in Gottes Hände. Jetzt zählt nur noch sein Wille.“ Kalle erzählt dem Arzt von seiner Liebe zu Blumen und der Natur, er merkt gar nicht, dass der ihm längst die Spritze gegeben hat.
Die dritte Impfung verweigern sie
Obwohl beide überzeugt sind, damals das Richtige getan zu haben, wollen sich weder Kalle noch Dieter boostern lassen. Sie sagen, dass sie keinen Sinn darin sehen würden. Beide finden die Coronapolitik in vielen Punkten nach wie vor falsch. Sie wünschen sich, dass Politiker und Virologen dazu stehen, dass Fehler gemacht wurden.
Kürzlich waren Kalle und Dieter auf der Burg Teck. Kalle ging es nicht gut an dem Tag. Dieter sagte: „Komm mal runter, setz dich mal hin, beruhige dich.“ Es funktionierte, Kalle atmete wieder ruhiger. Heute sagt er, dass dieser Moment einer der schönsten war. Wenn er von anderen gesehen wird, Zuneigung und Respekt erfährt, geht es Kalle gut. Bei den Querdenkern wurde Kalle gesehen, er war Teil einer Gemeinschaft.
Angst vor dem Krieg und um seine Familie
Eigentlich schien Kalle auf dem Weg zu einem stabileren Leben zu sein. Beim Treffen am Feuersee erzählt er noch, wie er sich auf den Frühling freue, und dass Dieter und er wieder Ausfahrten machen wollten. Wenige Tage später ruft er an, in der Ukraine tobt mittlerweile ein fürchterlicher Krieg. Kalle wirkt getrieben am Telefon, beinahe atemlos. „Mir geht es nicht gut.“ Er halte es nicht aus, wie Freunde und Bekannte im Internet plötzlich „Fake-News zum Krieg teilen und den russischen Präsidenten als Helden darstellen“. Corona spiele kaum mehr eine Rolle in den Facebook- und Telegramgruppen. Er betet mehrmals am Tag. Kalle, der Gottesgläubige, sagt: „Putin ist vom Teufel besessen.“
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