Anders waren Waldorfschulen schon immer, aber eben auch erfolgreich. Corona hat das Image gravierend geändert. Nun gelten die Schulen als Hort der Querdenker. Ist das wirklich so?
Ludwigsburg - Als Matteo Malchin in der siebten Klasse war, hat er einen Hühnerstall gebaut und ihn im Festsaal vor dem Publikum präsentiert. In der neunten Klasse hat er drei Wochen auf einem Ziegenhof weit weg von daheim mitgeschafft. In der zehnten hat er ein zweiwöchiges Praktikum bei einer Zimmerei gemacht und war davon so begeistert, dass er vielleicht Zimmermann werden möchte. Vielleicht aber studiert er auch Architektur. Oder macht eine Ausbildung zum Hubschrauberpiloten bei der Polizei. Er kann noch ein bisschen überlegen. Er ist erst nächstes Jahr mit der Schule fertig.
Waldorfschüler entscheiden erst spät über Abschluss
Diese Schule, man ahnt es, ist eine Waldorfschule. Jene Schule also, die für sich proklamiert, junge Menschen bei der Entwicklung ihrer individuellen Potenziale zu begleiten und zu fördern. Matteos Eltern haben sich nicht mit Rudolf Steiner, ihrem Erfinder, und seinen Ideen befasst, als sie Matteo in der Ludwigsburger Waldorfschule angemeldet haben. Ihnen gefiel einfach, dass sie nicht schon in der vierten Klasse die Entscheidung darüber treffen müssen, welchen Abschluss ihr Sohn einmal machen soll. Und dass es keine ständigen Klassenlehrerwechsel gibt, dass die Kinder mindestens bis zur zehnten Klasse zusammenbleiben. „Die Kinder können ohne Druck die passende Richtung finden“, sagt Matteos Mutter Constanze Malchin.
Sitzenbleiben gibt es nicht
In der Waldorfschule gibt es lange Zeit keine Noten. Schüler können nicht sitzenbleiben, das Abi steht erst nach 13 Jahren an. Es gibt also keine frühe Selektion und viel weniger Leistungsdruck. Gelernt wird trotzdem, nicht nur in Praktika und Projekten. Aber eben so, dass das Kind im Mittelpunkt steht, nicht das Einpauken des Stoffs.
Seit 1919 in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet wurde, ist das Konzept ein Exportschlager. Annähernd 2000 Waldorfschulen gibt es weltweit, 254 davon in Deutschland. Mehr als 90 000 Schüler werden dort unterrichtet. Erwiesenermaßen haben sie mehr Spaß am Lernen als Schüler an Regelschulen. Und bezeichnenderweise sind 40 Prozent Quereinsteiger, Kinder und Jugendliche also, die an einer staatlichen Schule nicht klarkamen.
Wenn man Matteo Malchin zuhört, wie er von seiner Schulzeit berichtet, glaubt man, dass er wirklich gerne in die Schule geht. Oder wie oft etwa hört man einen 17-Jährigen sagen: „Wir werden nicht auf den Abschluss vorbereitet, sondern aufs Leben.“ Bei seiner Mutter allerdings ist die Tonlage neuerdings gedämpft: „Ich hoffe, dass man wieder mehr zusammenrückt.“
Massiver Elternprotest wegen der Maskenpflicht
Was sie meint: Vor der Göppinger Waldorfschule drapieren Eltern im Oktober 2020 Teddybären und zünden eine Friedhofsleuchte an. Auf eine Tafel schreiben sie: „Lehrer und Schulleiter haften für jedes umgefallene Kind. Wir jagen euch durch alle Gerichtssäle.“ In Freiburg stellt das Regierungspräsidium vorigen November fest, dass von 55 Maskenattesten an einer Freiburger Waldorfschule fast alle ungültig sind. An der Backnanger Waldorfschule beginnt der Januar damit, dass sieben Familien ihre Kinder zu Hause lassen, weil sie die Maskenpflicht im Unterricht nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
Mit Corona kam die Kritik an den Maßnahmen, die vor dem Virus schützen sollen. Und mit der Kritik rückten zunehmend Waldörfler und andere Anhänger der Anthroposophie in den Fokus. Sie reden bei den sogenannten Hygienedemonstrationen oder laufen mit bei den sogenannten Spaziergängen. Sie preisen die Kraft der natürlichen, eigenen Abwehr und warnen vor den mRNA-Impfstoffen.
Auch Ken Jebsen war Waldorfschüler
Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, denen die Waldorfidee schon immer suspekt war. Weil so viel Esoterik darin enthalten ist, weil Rudolf Steiner, dieser streitbare Übervater, eine so zentrale Rolle spielt, weil es eine eigene Lehrerausbildung gibt, weil überhaupt so vieles so ungewohnt wirkt. Es kann ja schon irritieren, wenn Lehrer über die Inkarnationen ihrer Schüler sprechen. Oder Schüler ihren Namen tanzen.
Und da fügt es sich natürlich gut ins Bild, dass einer der bekanntesten Verschwörungsideologen, Ken Jebsen, ein Waldorfschüler war. Und dass die Heinrich-Böll-Stiftung analysiert hat, dass die Anthroposophie eine ideelle Grundlage der Querdenker sei.
Aber, ist es wirklich so einfach?
Auch an anderen Schulen gab es Protest gegen Masken
Auch Boris Palmer war ein Waldorfschüler. Heute setzt er als Oberbürgermeister in Tübingen nicht nur Corona-Schutzmaßnahmen um. Er fordert auch eine Impfpflicht ab 60. Und da ist Matthias Knecht, ebenfalls ehemaliger Waldorfschüler, der als Oberbürgermeister von Ludwigsburg auf einer Gegendemo zu den Montagsspaziergängen spricht. In Freiburg schreiben Waldorfschüler nach dem aufgeflogenen Attestschwindel einen offenen Brief, in dem sie sich von Verschwörungstheorien, Impfgegnern oder Maskenverweigerern distanzierten. Ehemalige Waldorfschüler sammeln über eine Petition Tausende Unterschriften, mit denen Schulen zur Abgrenzung von Schwurblern, Rechtsextremen oder Antisemiten aufgefordert werden.
Und es ist ja nicht so, dass staatliche Schulen vor Protest gefeit wären. Auch vor einer Göppinger Realschule haben besorgte Eltern Teddybären drapiert. Auch an einem Gymnasium in Landsberg hat sich eine Lehrerin geweigert, Maske zu tragen. Auch in Oppenheim demonstrierte ein Lehrer mit Querdenkern.
Kein Schwarz-weiß: Waldorfschulen sind heterogen
„Da ist ein total schiefes Bild entstanden“ sagt Heiner Ullrich. Er ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Mainz und beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren kritisch mit der anthroposophischen Pädagogik. Ullrich gilt als einer der besten unabhängigen Kenner der steinerschen Pädagogik. Seinen Studierenden treibt er immer erst mal ihre Waldorfschulen-Vorurteile aus. „Schaut genau hin“, rät er ihnen. „Dann seht ihr viele interessante Dinge.“
Ullrich sieht auch genug, was er nicht gut findet. Die starke, nachgerade autokratische Position des Klassenlehrers, der acht Jahre lang derselbe bleibt, zum Beispiel. Aber dass man Waldorfschulen in eine Ecke mit Querdenkern stellt, sei falsch. Dafür, sagt der Kenner, seien die Schulen viel zu heterogen. „Was an einer Waldorfschule passiert, muss nicht an jeder Waldorfschule passieren.“
Staat trifft auf Esoterik
Gemein hingegen ist allen Einrichtungen, dass sie frei sind – vor allem frei vom Staat. Wer eine freie Schule wählt, kann man folgern, ist tendenziell also schon mal etwas staatskritischer eingestellt. Heiner Ullrich formuliert es so: „Die Waldorfelternschaft stellt größtenteils eine Fraktion innerhalb der neuen Mittelklasse dar, deren Lebensstil in vielen Bereichen des Alltags vom Wunsch nach Selbstentfaltung bestimmt wird.“
Wenn der Staat dann aber doch eingreift, noch dazu so massiv wie mit der Vorgabe, Maske zu tragen oder dem Appell, sich impfen zu lassen, dann gibt es ein Problem. Und wenn er dann auch noch auf gläubige Esoteriker trifft, kann es verheerend werden.
„Wenn man so stark an dem Glauben hängt, die Masken seien ein Angriff auf die individuelle Freiheit und das Impfen auf den sich wiederverkörpernden Geist, dann geht man vielleicht auch mit den Querdenkern auf die Straße ohne Rücksicht auf mitmarschierende Neo-Nazis“, sagt Heiner Ullrich – der betont, dass wohl nur ein kleiner Teil der Waldorflehrer der Querdenker-Szene zugerechnet werden kann. Auch von den Eltern habe nur etwa ein Zehntel die Waldorfschule wegen der Anthroposophie gewählt.
Querdenker-Studie mit begrenzter Aussage
Die Autoren, die die Studie für die Heinrich-Böll-Stiftung erstellt haben, sagen übrigens selbst, ihre Untersuchung über die Nähe der Anthroposophie zu den Querdenkern sei nicht repräsentativ. Bestimmt womöglich also eine laute Minderheit das Bild?
„Ja und nein“, sagt Helmut Zander. Zander ist Professor für vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Fribourg in der Schweiz. Als Historiker und Theologe beschäftigt auch er sich mit der Anthroposophie und hat eine viel beachtete Biografie über Rudolf Steiner geschrieben. „Ja“, sagt Zander also – weil es auch hier eine Minderheit gebe, die über Lautstärke momentan die Wahrnehmung bestimmt. Und „Nein“, sagt er, weil es komplizierter sei. Weil die faktische Verweigerung des Impfens bis weit in das weniger laute Milieu hineinreiche. Ablesbar, so Zander, an weitgehend fehlenden Impfempfehlungen an den Schulen.
Waldorfschüler machen nur ein Prozent aus
„Ich hätte erwartet, dass einige sagen, Impfen ist sinnvoll, und sagen, Impfen ist nicht sinnvoll“, sagt Zander. Doch stattdessen hätten die Schulen die Position „Wir schützen die Freiheit der Eltern“ eingenommen. Und damit Impfskeptikern eine „offene Flanke“ geboten.
Der Bund der Freien Waldorfschulen hat es inzwischen satt, dass seine Anhänger pauschal als Impfgegner abgestempelt werden. Man ist zur Verteidigung übergegangen. „Freie Waldorfschulen sind keine Horte der Impfgegnerschaft“, sagt Nele Auschra, die Sprecherin des Bundes. Man müsse sich klarmachen, dass die 90 400 Waldorfschüler in Deutschland nur etwa ein Prozent aller Schüler ausmachten. Und in diesen einem Prozent – samt Elternhäuser und Lehrer – könne man nicht die Sündenböcke für die geringe Impfquote suchen. Und Steiner selbst hatte eine pragmatische Haltung zum Impfen. Sich selbst und von ihm betreute Kinder hatte er etwa gegen Pocken immunisieren lassen.
Auch samstags müssen Waldorfschüler antanzen
Auch die Waldorfschule in Schopfheim hat reagiert: Zwei Lehrer wurden fristlos entlassen, angeblich weil sie im Unterricht inakzeptabel über Corona geäußert haben.
Matteo Malchin darf auf dem Schulgelände kein Handy benutzen. Computer-Unterricht gibt es ab der neunten Klasse. Seine Schultage sind immer lang, und die Wochenenden nicht automatisch schulfrei. Dem 17-Jährigen macht das nichts aus: „Das schweißt zusammen.“ Außerdem wusste er ja, was auf ihn zukommt. Seine Schwestern waren auch auf der Waldorfschule. Die Älteste studiert jetzt Tiermedizin in München. Die andere Waldorfpädagogik in Stuttgart.
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