Stuttgart - Ein Balkon in Stuttgart. Unten rauschen Autos und Stadtbahn vorbei, oben flattern die Blätter im Herbstwind. Leon lehnt am Balkongeländer und dreht sich eine Zigarette. Der 20-Jährige ist eigentlich Stuttgarter, für sein Freiwilliges Soziales Jahr ist er aber vor Kurzem in ein anderes Bundesland gezogen. Präziser will er nicht werden, denn er weiß, dass sich einige über seine Aussagen ärgern werden. „Ich habe die Corona-Einschränkungen bisher gar nicht so schlimm wahrgenommen", sagt er. „Denn wir haben das Feiern nie ganz aufgegeben." „Wir", das bedeutet: viele seiner Freunde und er.
Gerade erst haben junge Menschen in sozialen Netzwerken eine Art Shitstorm über sich ergehen lassen müssen. Nachdem einige Jugendliche öffentlich bekundet hatten, Partys zu vermissen, hieß es, dass dies Jammern auf hohem Niveau sei. Übrigens wüchsen in anderen Ländern Jugendliche unter viel schwierigeren Bedingungen heran. Die jungen Menschen hier sollten sich gefälligst für das Wohlergehen der Gemeinschaft zusammenreißen – so lautete die implizite Botschaft.
Die Jüngeren wünschen sich Verständnis
So wie sich Ältere in puncto Corona mehr Solidarität von den Jüngeren wünschen, würde sich Leon mehr Verständnis für die Bedürfnisse der Jungen wünschen. „Leute in meinem Alter brauchen das Feiern. Ich kann mich in der Musik und beim Tanzen komplett verlieren, komme auf andere Gedanken, kann abschalten. Danach geht es mir immer viel besser.“
Der 20-Jährige gibt offen zu, dass er sich seit dem Ausbruch der Pandemie nicht an alle Verordnungen gehalten habe. Während der strikten Ausgangsbeschränkungen hat er mit Freunden in Gartenhütten Bier getrunken und Shisha geraucht, in Kellern von Bekannten gab es gelegentlich auch kleine Raves, also Partys, bei denen sich zu elektronischer Musik bewegt wird. Von Montag, 2. November, an sind die Corona-Regeln nun beinahe wieder so streng wie im März und April: Restaurants und Bars bleiben geschlossen, Kultur- und Sporteinrichtungen ebenso, private Treffen sind nur noch zu zweit oder – wenn es sich nur um zwei Haushalte handelt – maximal zu zehnt erlaubt.
Mit jedem Monat schwinde die Motivation
„Wir sollten Verständnis für das Bedürfnis nach Feiern aufbringen“, meint Clemens Kullmann, Bereichsleiter für Offene Kinder- und Jugendarbeit bei der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft. Natürlich sei 2020 auch für Erwachsene eine Herausforderung, jedoch wäre ein halbes oder Dreivierteljahr für sie weniger bedeutsam, weil es rein rechnerisch einen kleineren Teil ihres Lebens einnehme. „Wir hören das viel in unseren Einrichtungen: dass sich die Dauer, in der die Jugendlichen nun schon mit den Restriktionen leben müssen, endlos anfühlt.“
Lucia Paukert war noch nie in einem Club feiern – und trotzdem vermisst sie es. Die Stuttgarterin wurde dieses Jahr am 30. März 18 Jahre alt. Kein sehr glückliches Datum. Wenige Tage zuvor war das öffentliche Leben komplett runtergefahren worden. Anstatt also auf ihre Volljährigkeit anzustoßen und Dinge auszuprobieren, die nun endlich erlaubt waren, saß sie mit zwei Freunden auf einer Parkbank in Stuttgart-Vaihingen. „Das hat meinen Geburtstag ordentlich gecrasht.“
Es sieht auch nicht so aus, als könnte sie die Party bald nachholen. Die Wiedereröffnung von Diskotheken steht auf der Prioritätenliste von Politikern ganz unten. Das hat gute Gründe: Ausgelassene Menschen in einem geschlossenen Raum, die sich kaum mehr um Abstand und Hygieneregeln kümmern – das ist so etwas wie der Traum des Coronavirus’. Obwohl Lucia Paukert versucht, sich an alle Corona-Regeln zu halten, solidarisch zu sein, falle es ihr zunehmend schwer: „Am Anfang ging’s noch, da hatte man die Hoffnung, dass das alles bald vorbei ist. Aber mit jedem Monat, der vergeht, schwindet die Motivation.“
Reisen nach dem Abi? Unmöglich
Und es geht ja nicht nur ums Feiern. Es geht auch um Zukunftsfragen, um den Schul- und Unialltag, der gerade alles andere als alltäglich ist, und den Übergang zum Beruf. Viele würden sich nicht mehr fragen, was zu ihnen passe, sondern: Was kann ich überhaupt tun?, weiß Kullmann. Neben- und Ferienjobs wurden gestrichen, befristete Stellen nicht verlängert, Auslandsaufenthalte unmöglich.
Mehmet Ildes, ein Sprecher des Stuttgarter Jugendrats, wurde von den Auswirkungen der Pandemie knüppelhart getroffen. Der 19-jährige Nachwuchspolitiker hat dieses Jahr sein Abitur gemacht, eigentlich wollte er danach arbeiten und die Welt erkunden. Die Traum vom Reisen ist längst geplatzt. Er fängt stattdessen nun an zu studieren, Wirtschaftswissenschaften an der Uni Hohenheim. Der Studienbeginn wird ein ganz anderer sein als normalerweise: kaum Präsenzveranstaltungen, keine Erstipartys. „Es wird sehr schwierig, Leute kennenzulernen.“
Für ihn gab es wenig Positives dieses Jahr. Das Einzige, das ihm einfällt: „Politiker haben durch die Corona-bedingten Schulschließungen festgestellt, dass man die Digitalisierung vorantreiben muss. Und es wurde offensichtlich, dass man mit uns sprechen muss.“ Mehmet Ildes ist überzeugt, dass auch die Stuttgarter Krawallnacht im Juni auf das zu lange Ignorieren der Jugend zurückzuführen ist. „Wenn man die ganze Zeit zu Hause sitzen soll, geht etwas in einem kaputt.“
Jeder Zehnte ist zwischen 15 und 24 Jahre alt
Dass sich Teenager von Politikern weder gehört noch ernst genommen fühlen; haben die Ergebnisse der Sinus-Jugendstudie von Juli gezeigt. Für viele scheint es, als seien sie der Politik nur eine Last. Die 15- bis 24-Jährigen machen aber mehr als zehn Prozent der Bevölkerung aus. Und auch wenn sie selbst weniger vom Coronavirus betroffen sind, von den Auswirkungen sind sie es aber umso mehr.
Louisa Buhl, eine 16-jährige Gymnasiastin aus Remseck, ist normalerweise fast jeden Tag unterwegs. Sie spielt Handball im Verein, trifft sich mit Freunden, macht Ausflüge nach Ludwigsburg oder Stuttgart. Zurzeit hat sie nun aber nur wenig vor, sie sitzt viel zu Hause mit ihrem Freund. „Für Leute, die nicht in einer Beziehung sind, ist das alles noch viel härter.“
Aus Angst vor dem Alleinsein lieber wieder ins Kinderzimmer
Lukas Clauß hat in diesem Jahr deutlich mehr Zeit bei seinen Eltern verbracht; als er geplant hatte. Eigentlich studiert der 20-Jährige im bayerischen Ansbach. Als sich abzeichnete, dass seine Anwesenheit dort nur noch begrenzt nötig ist und immer mehr Kommilitonen wieder zu ihren Familien zogen, hat auch er seine Wohnung gegenüber der Hochschule gegen das Kinderzimmer in Großbottwar im Kreis Ludwigsburg eingetauscht. „Natürlich nerven einen manche Sachen zu Hause“, sagt er. „Aber alleine in meiner Wohnung hätte ich mich einsam gefühlt.“
Auch das bedeutet Corona: Städte, die zu einem großen Teil von Studierenden leben, sind so gut wie tot. Und aus Angst vor dem Alleinsein ist das ehemalige Kinderzimmer plötzlich sehr verlockend. Auch die 21-jährige Franziska Schmock hat das vergangene Semester komplett bei ihrer Familie in Dettenhausen bei Tübingen verbracht statt in Stuttgart, wo sie an der Hochschule der Medien studiert. Die meisten ihrer Kommilitonen und Freunde hat sie seit Februar nicht gesehen. „Ich nehme Corona sehr ernst.“
Treffen unter Aufsicht seien besser als heimlich
Unterdessen fordert der Exilstuttgarter Leon, dass Bars und Clubs bald wieder öffnen. Er befürchtet, dass andernfalls sämtliche Subkultur vor die Hunde gehe. Seine Idee wäre es, dass man überall die Kontaktformulare einführt, so dass man informiert werde, falls man in der Nähe eines Infizierten war. „So könnte jeder auf eigenes Risiko entscheiden, ob er ausgehen will“, sagt er.
„Es muss legale Möglichkeiten geben, sich zu treffen“, fordert Clemens Kullmann. Feiern sei zwar zurzeit einfach nicht möglich, dass aber etwa auch Sportstätten schließen müssen, findet er bedenklich. Es sei besser, wenn sich Jugendliche unter Aufsicht treffen könnten als versteckt irgendwo. In den vergangenen Monaten habe dies auch gut funktioniert. „Alles, was jetzt zumacht, sind die Orte, an denen sich Jugendliche noch legal treffen konnten.“ Von Montag an ist das vorbei.