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Sommerferien 2020: Generation Corona - wie geht's weiter?

Jenny Bessing (r.) macht gerade ihren Realschulabschluss. Ihre Mutter Simone ist Begleitlehrerin und kennt Frust bei Eltern und Schülern.

Am 29. Juli beginnen die Sommerferien in Baden-Württemberg. Doch sechs Wochen Entspannung ist nicht für alle drin, die Folgen der Pandemie wollen aufgearbeitet werden. 


Stuttgart - Verlockend klingt das nicht: Statt am Meer oder mit Freunden zu entspannen, sollen Zehntausende Schüler aus Baden-Württemberg in den Ferien pauken. Die Begründung: Der Fernunterricht und das Homeschooling während der coronabedingten Schulschließungen konnte den ausfallenden Unterricht nicht kompensieren. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hat deshalb kostenlose Nachhilfe für die Ferien angekündigt; sie nennt dieses Programm Lernbrücken. Gemeint sind Lern- und Förderkurse, in denen Kinder und Jugendliche Stoff aufholen sowie sich auf das kommende Schuljahr vorbereiten können. Allein in Stuttgart haben laut Staatlichem Schulamt 3600 Schüler die Empfehlung erhalten, ihre Lücken während der Sommerferien zu schließen.

Defizite lassen sich nicht komplett aufholen

„Die Effekte im Fernunterricht waren relativ gering“, bestätigt Gerhard Brand, der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung in Baden-Württemberg. „Und diese Defizite lassen sich auch nicht mehr vollständig aufholen.“ Einige Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern habe man während der Pandemie fast vollständig verloren. Dennoch ist er überzeugt, dass der Generation Corona durch den verpassten Stoff kein Nachteil im Leben erwachsen werde, denn „auch aus Kurzschuljahrgängen ist schließlich etwas geworden“, sagt er und erinnert an die sechziger Jahre, als es in einer Umstellungsphase zwei Kurzschuljahrgänge gab, weil der Schuljahresbeginn von Ostern auf den Sommer verlegt wurde.

So oder so: Verpflichtend soll der Unterricht in den Ferien für niemanden sein. Die Klassenlehrer entscheiden gemeinsam mit den Fachlehrern, wer dies nötig hat, und geben gegenüber den Eltern Empfehlungen. Zu den Kriterien sollen schlechte Noten schon vor der Pandemie zählen, außerdem schlechte Erreichbarkeit in den vergangenen Monaten, Defizite im Fernlern- und Präsenzunterricht sowie eine erkennbare Gefahr des Wiederholens im nächsten Schuljahr.

„Ich habe mich manchmal allein gefühlt“

Karlotta Emilia Kramme wird keine Teilnehmerin der Lernbrücken sein. Sie hat dieses Jahr ihre Abschlussprüfungen an einer Realschule im Kreis Esslingen geschrieben, nach den Sommerferien wechselt sie auf ein berufliches Gymnasium, um noch das Abitur zu machen. Die 15-Jährige bezeichnet sich selbst ganz klar als einen Teil der Generation Corona. Nicht nur, dass bei ihrem Jahrgang keine große Abschlussfeier und keine Abschlussfahrt möglich sind, „ich habe mich auch manchmal allein gefühlt während der letzten Monate“, erzählt sie.

Zwischenzeitlich habe sie einen ziemlichen Durchhänger gehabt. „Man musste alles selbst machen und sich immer wieder zu Hause motivieren. Ich glaube auch, dass wir schlechter vorbereitet waren als die Jahrgänge vor uns.“ Während der Zeit, als die Schulen geschlossen waren, hatte ihre Klasse kein einziges Mal richtigen Online-Unterricht mit Videokamera. Bei dem ein oder anderen Lehrer habe man sich auch mal gefragt, was derjenige eigentlich gerade treibe, „das waren aber vor allem diejenigen, die auch im Unterricht weniger engagiert sind und schwerpunktmäßig Arbeitsblätter verteilen“, sagt sie. „Bei anderen hat man immer zeitnah sehr ausführliche und hilfreiche Rückmeldungen erhalten.“

Nicht alle Lehrer haben Corona zur Entspannung genutzt

Auch Paula Hettel, Fünftklässlerin aus dem Rems-Murr-Kreis, hatte den Eindruck, dass sich einige Lehrer zu Beginn des Homeschoolings „etwas zurückgelehnt haben“. Inzwischen sei dies nicht mehr so. Die Elfjährige ist dennoch froh, dass sie zumindest alle zwei Wochen nun wieder echten Unterricht hat: „Am Anfang der Corona-Zeit dachte ich noch: Länger schlafen ist ganz gut. Aber als ich meine Freunde über Wochen hinweg nicht gesehen habe, fand ich es nicht mehr schön.“ Außerdem verbringe sie in den Wochen, in denen sie zu Hause ist, mehr Zeit mit Schulaufgaben als wenn Präsenzunterricht stattfindet.

Nicht alle Lehrkräfte haben sich während der vergangenen Monate zurückgelehnt – das ist Samira Deyhimi wichtig zu betonen. Sie ist Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule in Stuttgart und sagt: „Zumindest am Anfang habe ich für die Vor- und Nachbereitung von Online-Unterrichtsstunden sowie Fernunterricht deutlich mehr Zeit benötigt als für normalen Unterricht.“ Vieles, was im Klassenzimmer möglich ist, funktionierte online nicht. „Wir mussten eine ganz neue Art des Unterrichts entwickeln.“ Innerhalb von wenigen Tagen wurde Moodle aktiviert, sämtlichen Schülern der Zugang mitgeteilt und eine Art Schwarzes Brett auf der Schulwebsite entwickelt. Parallel musste eine Form des persönlichen Kontakts gefunden werden. „Anfangs wusste ich nicht, ob ich die Schüler einfach so zu Hause anrufen kann oder ob das zu kontrollierend wirkt“, berichtet ihre Kollegin Jessica Schöne. „Tatsächlich waren die Rückmeldungen auf die Anrufe von uns Lehrern dann aber durchgehend positiv.“

Je mehr Kontakt, umso besser für alle

Unterhält man sich mit Schülern, Eltern und Lehrern wird klar: Je mehr mündlichen Kontakt es in den vergangenen Monaten gab – ob am Telefon oder per Video –, umso weniger haben sich alle Beteiligten allein gelassen gefühlt. Simone Bessing hat dies hautnah miterlebt. Die Mutter von zwei Töchtern ist Begleitlehrerin und Elternbeiratsvorsitzende an einer Realschule im Kreis Esslingen. Dort habe alles sehr gut geklappt, sagt sie. „Unsere Schule war noch nie so digital wie jetzt“, bestätigt ihre Tochter Jenny Bessing (15). Die Mutter hat von Kindern und Eltern anderer Schulen aber viel Frust mitbekommen: „Fast überall gab es den Wunsch nach mehr Videokonferenzen.“ Und Eltern seien beim Homeschooling mehr als einmal an die eigenen Grenzen gestoßen.

„Ich freue mich natürlich auf die Sommerferien“, sagt Lynn Bessing (11), die jüngere Tochter und Fünftklässlerin an einem Gymnasium. „Aber mein größter Traum ist es, dass wir alle wieder in die Schule dürfen und unsere Lehrer und Freunde sehen – so wie früher.“

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