Judith Brouwers

Redakteurin & Producerin, Nierstein

3 Abos und 6 Abonnenten
Artikel

Diskriminierung wegen Behinderung: Ausgegrenzt, nicht ausgebildet

Lukas Schmucker trägt eine Kiste ins Wohnzimmer und stellt sie behutsam ab. Heraus zieht er eine schwarz-weiß karierte Hose, ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Brotmanufaktur Schmidt", und eine weiße Bäckermütze. Er grinst, als er sie auf seine blonden Haare setzt. Eigentlich hat er an diesem Tag Urlaub, doch seine Arbeitskleidung will er dennoch zeigen. "Ich bin mega stolz", sagt er. Stolz, Bäckershelfer zu sein. Und stolz, Nussschnecken und Croissants formen zu können. Seit Februar arbeitet der 20-Jährige als Hilfskraft in einer Münchner Backstube. Eine reguläre Ausbildung zum Bäcker war ihm nicht möglich. Schmucker hat Trisomie 21, eine Genvariante, die zu körperlichen und geistigen Einschränkungen führt.

7,8 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Schwerbehinderung, jeder Fünfte von ihnen hat keinen Berufsabschluss. Vor 14 Jahren hat die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Sie verpflichtet Staaten dazu, Menschen mit Behinderung einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, wo sie über Ausbildung und Job selbst entscheiden können. Doch oft ist das nicht der Fall. Häufig finden Menschen mit Behinderung keinen Ausbildungsplatz oder eine reguläre Stelle. Nur 46,9 Prozent von ihnen sind erwerbstätig. Vielen bleibt nur, in einer Werkstatt zu arbeiten, die sich extra an Menschen mit Beeinträchtigungen richtet. Dort arbeiten sie unterbezahlt - und häufig nicht in den Bereichen, die sie wirklich interessieren.

Werkstätten, die Milliarden umsetzen

2.900 solcher Werkstätten gibt es in Deutschland, 320.000 Menschen sind dort beschäftigt. Sie montieren beispielsweise Bauteile für die Autoindustrie, verpacken Porzellan oder waschen Wäsche. Jedes Jahr machen die Werkstätten einen Umsatz von etwa acht Milliarden Euro. Dennoch erhalten die Beschäftigten dafür nur einen Niedriglohn, im Jahr 2019 waren es durchschnittlich 207 Euro pro Monat. Sie sind auf Unterstützung vom Staat angewiesen, zum Beispiel bei der Finanzierung von Mittagessen oder Fahrdiensten.

Wofür leben wir? - Der Sinn-Newsletter

Jeden Freitag bekommen Sie alle Texte rund um Sinnfragen, Lebensentscheidungen und Wendepunkte.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis.

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.

Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.

Eigentlich sollen die Werkstätten Menschen mit Beeinträchtigungen auf den Arbeitsmarkt vorbereiten, dazu wurden sie in den Sechzigerjahren geschaffen. Doch das Konzept geht nicht auf: Einmal in der Werkstatt, gelingt nur einem Prozent der Beschäftigten der Weg heraus. Die Vereinten Nationen haben Deutschland deshalb bereits 2015 empfohlen, die Werkstätten nach und nach abzuschaffen. Aber der Staat hält weiter an ihnen fest: Im Nationalen Aktionsplan 2016 - einem Leitfaden zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - schreibt die Bundesregierung, dass die Werkstätten "zur Teilhabe am Arbeitsleben weiterhin ihren Platz haben". Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, findet die Entscheidung der Regierung nachvollziehbar: "Wir haben in Großbritannien gesehen, was passieren kann, wenn die Werkstätten von heute auf morgen komplett abgeschafft werden: Viele Menschen sind ohne jegliche Perspektive in die Beschäftigungslosigkeit gegangen."

Das könne auch hierzulande drohen, glaubt Dusel: "Wir haben jetzt schon in Deutschland 170.000 Menschen mit schweren Behinderungen, die keinen Job finden. Wenn wir die Werkstätten in dieser Situation zumachen, würde das zusätzlich noch mehr Personen ausschließen." Trotzdem fordert er eine dringende Reform des Systems: Es brauche eine gerechtere Bezahlung und einen einfacheren Übergang zum regulären Arbeitsmarkt. Ausschlaggebend müsse sein, was die Menschen in den Werkstätten wollen: Werkstatträte stünden einer Schließung kritisch gegenüber.

Drei viertel der Beschäftigten in den Werkstätten haben eine kognitive Beeinträchtigung - so wie Lukas Schmucker, der Bäckershelfer. Ihm war schon in der Schule klar: In eine der Werkstätten möchte er nicht. Seine Eltern, Renate Schmucker und Peter Ortner, förderten ihren Sohn schon früh und setzten sich für Modellprojekte zur Integration von Menschen mit einer Behinderung ein. So ermöglichten sie Schmucker, in einer Außenklasse seiner Förderschule unterrichtet zu werden. Dadurch konnte er eine Regelschule besuchen - anstelle einer Förderschule, in die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen meistens gehen. Die Familie zog sogar vor den Landtag und wandte sich ans Fernsehen, wenn solche Projekte eingestellt werden sollten.

Das Recht auf Arbeit gilt für alle

Anstrengende Jahre liegen hinter ihnen. "Ich bin müde, auch wenn ich es gerne gemacht habe", sagt Renate Schmucker. Eine Ausbildung zum Bäcker konnte ihr Sohn trotz allem nicht beginnen. Ein Eignungstest zeigte, dass Schmucker den Anforderungen der Ausbildung nicht gewachsen war. Vor allem die Matheaufgaben waren zu schwierig. Wenn seine Mutter davon erzählt, blickt Schmucker stöhnend zur Decke. Der Traum von der Ausbildung zum Bäcker endete hier.

"Das Recht auf Bildung und auf Arbeit gilt für alle gleichermaßen. Das hängt nicht von irgendwelchen Prämissen ab", sagt Leander Palleit vom Institut für Menschenrechte. Jeder sollte frei entscheiden können, welche Ausbildung er anstrebe - und dann die nötige Unterstützung erhalten. Palleit leitet die Monitoringstelle und beobachtet, ob die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland erfolgreich umgesetzt wird. Mit der aktuellen Ausbildungssituation ist Palleit nicht zufrieden: "Viel zu wenige Menschen mit Behinderung schaffen es tatsächlich, eine reguläre Ausbildung zu durchlaufen."

Zum Original