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"Diese Strukturen begünstigen Gewalttaten wie in Potsdam"

Quelle: Martin Müller/imago images


Die Tat schockte vor einer Woche Deutschland: Vier Menschen mit Behinderung sind in Potsdam getötet worden. Welche Folgen hat der Fall? Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen ist sicher: Nicht genug.

"Reden hilft". Damit hatte die Einrichtung "Oberlin Lebenswelten" in Potsdam auf ihrer Internetseite geworben. Doch bislang ist das Reden ausgeblieben, obwohl der Bedarf seit einer Woche kaum größer sein könnte. Inzwischen ziert ein neuer Leitspruch die Seite: "Menschen bilden. begleiten. behandeln."

Vier Menschen sind dort mutmaßlich von einer Mitarbeiterin der Einrichtung für Menschen mit Behinderung gewaltsam getötet worden. Berichten zufolge soll es sich um Schnittverletzungen am Hals handeln. Doch mehr als einen kurzen Aufschrei gab es dazu in Deutschland nicht. Die obligatorischen Rufe nach einer Erhöhung des Lohns bei Pflegekräften wurden laut, eine Debatte über die Strukturen in der Pflege von Menschen mit Behinderung blieb aber aus. Und jetzt? Nichts mehr.

Über die Opfer, die im Thusnelda-von-Saldern-Haus der "Oberlin Lebenswelten" in Potsdam lebten, ist bislang wenig an die Öffentlichkeit gedrungen - aus gutem Grund. Ihr Persönlichkeitsrecht soll gewahrt werden, auch wenn der Wunsch nach mehr Informationen bei vielen Menschen groß ist.


Was aber bislang bekannt ist: Zwei Frauen, 31 und 42 Jahre alt, und zwei Männer im Alter von 35 und 56 Jahren sind getötet worden. Sie lebten zum Teil seit ihrer Kindheit dort. Eine 43-Jährige ist zudem schwer verletzt worden. Sie wird derzeit in einem Krankenhaus behandelt. "Mehr können wir aktuell mit Blick auf die Ermittlungen nicht sagen", erklärt Hanna Urban, Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Potsdam, t-online. Zeugen würden derzeit befragt, Spuren ausgewertet. Die Obduktion der Toten sei noch nicht abgeschlossen.

Polizeiaufgebot vor dem Komplex des Oberlinhauses in Potsdam: Dort sind vier Menschen getötet und eine Frau schwer verletzt worden. 


Drei Pflegekräfte waren zuständig für 20 Bewohner

Über den Ablauf ist wenig bekannt: Zu der Tat kommt es am Abend des 28. April, als auf der Station für Wohnpflege in der Spätschicht drei Pflegekräfte 20 Bewohner betreuen, bestätigte Oberlin-Sprecherin Andrea Benke am Dienstag. Darunter sei auch die tatverdächtige 51 Jahre alte Pflegekraft gewesen. Sie fuhr offenbar nach der Tat nach Hause und erzählte ihrem Mann, was geschehen war. Er verständigte die Einrichtung und die Polizei. Nur so wurden die Toten und die Verletzte gefunden. "Wir ermitteln noch zum Tathergang", sagt Hanna Urban. Mitarbeiter der "Oberlin Lebenswelten" wollten sich auf Anfrage von t-online nicht äußern.


In dem Wohnheim mit 65 Betten leben Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung oder Hirnschädigungen nach Krankheiten und Unfällen. Sie werden nach Angaben des Oberlinhauses von 80 Mitarbeitern versorgt.


Der RBB sprach mit einem 33-Jährigen, der zur Behandlung in das Oberlinhaus fährt. Er lebt außerhalb der Einrichtung, kennt es aber seit seiner Geburt. Seiner Einschätzung nach seien die meisten Menschen dort nicht in der Lage, sich aus dem Bett zu bewegen. "Und wenn ich mir vorstelle, dass ein Mensch durch die Einrichtung läuft und so eine Tat vollzieht, stell ich mir immer vor, man betet eigentlich nur, dass seine Tür nicht aufgeht. Weil wehren kann man sich nicht."


Nach der Tat beginnt kurzzeitig eine Debatte bei Twitter. "Fassungslos", "Geschockt", "Unendlich traurig" schreiben Nutzer. Und die Frage kommt auf: Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn die vier Menschen Opfer einer politisch motivierten Straftat geworden wären?

Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen ist sich sicher. Würden die Opfer einer anderen Minderheit angehören, hätte es seiner Meinung nach einen viel größeren Aufschrei und eine deutlich intensivere Debatte gegeben.


Stattdessen folgen Aussagen wie die eines Polizeipsychologen am Tag nach der Tat. Er hatte über mögliche Gründe gesprochen: "Als erstes natürlich schwere Konflikte zwischen Täter und den Opfern, zum zweiten auch eine dramatische Überforderung des Täters in der Situation. Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen, von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind", sagte er dem RBB. Seine Aussagen stießen auf heftige Kritik, vor allem, weil die Einordnung fehlte.


"Menschen mit Behinderung müssen nicht erlöst werden"

"Auch Menschen mit Behinderungen können ein lebenswertes Leben führen und müssen nicht erlöst werden", sagt Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen im Gespräch mit t-online. Allein diese Gedanken würden ein deutsches Problem zeigen. Menschen mit Behinderung werden ausgegrenzt, betont er.


Sie lebten in Einrichtungen, in denen eine Ausbildung, ein Fahrdienst und vieles mehr angeboten wird. In die Gesellschaft integriert seien sie aber kaum. Deshalb sei es für viele schwer zu glauben, dass auch ein Mensch mit einer Behinderung ein glückliches und selbst bestimmtes Leben führen könne. Und bei den "Einrichtungen, die alles beinhalten, die totalen Institutionen mit sogenannter Vollversorgung" fielen Gewalt und Missbrauch weniger auf und würden, nach Einschätzung Krauthausens, "sogar noch begünstigt". Die abgeschotteten Strukturen würden das möglich machen.


Erst zu Beginn des Jahres 2021 deckte das "Westfalen Blatt" einen Fall in Bad Oeynhausen auf. Dutzende Ärzte, Pfleger und Betreuer stehen im Verdacht, Bewohner einer Einrichtung jahrelang Gewalt angetan zu haben. Freiheitsentzug, Körperverletzung und der Einsatz von CS-Gas spielen bei den Ermittlungen eine Rolle, wie die Zeitung berichtet. Die Opfer? Geistig und körperlich behinderte Menschen. Die Ermittlungen dauern noch an.



Strukturen, wie sie nicht nur in der Potsdamer Einrichtung, sondern in vielen vergleichbaren Häusern vorhanden sind, "begünstigen eben Gewalttaten wie diese", schätzt Krauthausen die Situation ein. Seit Jahren machen sich Behindertenverbände dafür stark, dass zuerst die ambulante Betreuung zu Hause gewährleistet werden sollte, bevor eine stationäre Unterbringung in Betracht gezogen wird. "Daran hat die Politik aber kein Interesse, denn stationäre Einrichtungen bringen Geld und die Versorgung zu Hause ist teurer." Jede Abweichung der Norm bedeute Aufwand und dazu sei kaum jemand bereit. "Daran muss sich etwas ändern. Zeig mir die Menschen, die nicht auch mit Assistenz zu Hause leben können", sagt Krauthausen.


Problem: Pfleger haben Macht über Bewohner

Immer wieder werde über den Pflegenotstand in Deutschland gesprochen, aber es ändere sich nichts. Es gebe auch ein Machtgefälle zwischen Pflegerinnen und Pflegern und den Bewohnerinnen und Bewohnern, über das gesprochen werden müsse. "In manchen Pflegeeinrichtungen behandeln die Pfleger die Menschen wie Kinder, als seien sie unmündig", sagt Krauthausen. Spreche man Missstände an, gelte man als Querulant. Er fordert: Es müsse dezentrale Strukturen geben, Berater, die selbst eine Behinderung haben und damit einen anderen Blick auf das Geschehen.


Vor allem die Situation der Menschen, die in den Einrichtungen leben, sollte mehr in den Fokus gerückt werden. Mögen sich die Mitbewohner? Können sie sich nach ihren Interessen entfalten? "Darüber will aber niemand sprechen", sagt Krauthausen. Jeder Mensch habe das Recht, selbst zu entscheiden, ob er in einer stationären Einrichtung leben wolle oder nicht. Das sei viel zu oft nicht der Fall.


Nur einen Tag vor der gewaltsamen Tat im Oberlinhaus hatte es eine Begutachtung der Einrichtung gegeben. "Aber die Einrichtungen schützen sich ja auch selbst, sagen, es sei alles o.k. und dann schaut niemand mehr genauer hin", so der Aktivist. Der 40-Jährige habe Glück gehabt und sei nur einmal mit versteckter Kamera für fünf Tage in einem Heim gewesen. Da habe er selbst erlebt, wie schon ein Toilettengang nicht selbstbestimmt stattfinden könne, weil der Pfleger oder die Pflegerin erst einmal etwas anderes zu tun habe. Auch auf Privatsphäre werde kaum geachtet. Viele Bewohner empfänden das ebenso als Gewalt.


Schweigeminute vor dem Oberlinhaus

Der Verein Oberlinhaus trauerte in der vergangenen Woche mit einer Andacht um die vier getöteten Bewohner. Am Donnerstag wird es einen Gedenkgottesdienst geben, der vom RBB live übertragen wird. Gemeinsam mit der Stadt Potsdam soll eine Stunde lang an die Opfer gedacht werden, um 19 Uhr läuten alle Glocken der Kirchen in der Landeshauptstadt. "Das alles reicht nicht aus", mahnt Raul Krauthausen. Der Aktivist vermutet, dass die Tat bald wieder in Vergessenheit gerate. Deshalb fordert er von Kanzlerin Angela Merkel: "Die herrschenden Strukturen bedingen die Gewalt, das muss sich jetzt ändern."


Merkel äußerte sich bislang nicht zu dem Tötungsdelikt. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung hatte "aufgrund der Termindichte und Vielzahl an Anfragen" keine Zeit, um mit t-online zu sprechen. Und so bleibt vieles, was gesagt werden müsste, um eine Debatte auch langfristig anzustoßen und Strukturen zu verändern, ungesagt. Reden hilft. Auch in diesem Fall.

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