Enttäuschung? Nein, sagt Martin Schiller. Über die 4,9 Prozent ärgert er sich nicht. Und das, obwohl die AfD nirgendwo anders in Deutschland so schwach abgeschnitten hat. Münster ist der einzige Wahlkreis, in dem die Partei unter fünf Prozent blieb - und damit weit unter dem Bundesergebnis und noch weiter unter den Erfolgen, die sie gerade im Osten erreichen konnte. Schiller ist in Münster Direktkandidat der AfD. „Wir waren auch zur vergangenen Landtagswahl die Letzten", sagt er - und: „Wir werden es bei der nächsten Bundestagswahl 2021 sicher auch wieder sehr schwer haben. Das liegt schlicht an der Struktur Münsters". Was ist es, das diese so besonders - und die AfD so deutlich hinter den Trend zurückfallen lässt?
Die Suche nach einer Erklärung beginnt im Kreuzviertel. „Ein starkes Stück Münster" nennt Berthold Tillmann den Bezirk, in dem er seit vierzig Jahren lebt. Es ist ein Ort, an dem das, was Münster auszeichnet, zusammenkommt. So ist das auch in diesem Fall: Nur 2,6 Prozent der Stimmen bekam die AfD in dem Viertel, der geringste Anteil im gesamten Wahlkreis. „Es gibt in der Stadt schon immer eine breite Streuung über das politische Spektrum", sagt Tillmann, der zehn Jahre Oberbürgermeister war - „aber nach rechts gibt es eine rote Linie. Da zeigt sich auch, sobald es derartige Veranstaltungen gibt, ein breites bürgerschaftliches Bündnis." Münster sei konservativ, das Umland noch mehr. Aber: Es gebe die klare Grenze.
Tillmann kommt aus der Begeisterung für die eigene Stadt nicht raus. Die Menschen seien „gemeinsinnorientiert und haben eine hohe Bereitschaft und Vermögen zur Diskussion". Im Kreuzviertel sind die Geschäftsleute seit über dreißig Jahren organisiert, eine Zukunftswerkstatt kommt seit fast zwanzig Jahren zusammen. Der „Kreuzvierteiler" erscheint als Zeitschrift für das Viertel - Auflage: 8000 Exemplare. „Es gibt ein wirklich schönes Wir-Gefühl", sagt Tillmann. Das Gefühl von Abgehängt-Sein kenne eigentlich niemand, ist der Politiker überzeugt, die Wahlbeteiligung ist seit jeher hoch, von Politikverdrossenheit ist keine Spur.
Es ist, weil die Gemeinschaft funktioniert, aber nicht nur: „Das hat ehrlicherweise schon etwas mit Bildungsstand und wirtschaftlicher Sicherheit zu tun", sagt Tillmann. Die ist, wenn man durch das Kreuzviertel schlendert, erlebbar. Es gibt nicht nur Altbauten, aber viele. Und nicht wenige von ihnen haben schicke Jugendstilfassaden. Der Blick durch die Fenster nach innen zeigt Parkett am Boden und Stuck an der Decke. Dort leben Akademiker, eher „poststudentisch" sei das Milieu, sagt Tillmann. Nicht wenige arbeiten tagsüber an der Uni, sind Lehrer oder Jurist und gehen abends ins Schlosstheater, ein Programmkino, das so viel Charme hat wie das Viertel: „Höchstambitioniert, multilingual, kritisch", sagt Tillmann. Er meint die Filme, die über die Leinwand laufen. Er könnte aber auch genauso die Menschen meinen, die davor sitzen.
Bei dieser Klientel hat die AfD einen schlechten Stand. Nur sieben Prozent der Menschen mit Hochschulabschluss haben sie gewählt, hat die Forschungsgruppe Wahlen ermittelt. Mit mittlerer Reife sind es 17 Prozent. Und: Nur zehn Prozent der Beamten wählen die Partei, unter Arbeitern sind es 19. „Natürlich ist die AfD stärker, wo die Probleme der derzeit Regierenden aufschlagen. Die sind hier noch nicht so angekommen", sagt der AfD-Mann Schiller - und fügt noch hinzu: „In Münster sitzt man in einem Luxusauto und viele merken nicht, wie es vor die Wand fährt. Man versteckt sich hinter seinem Rotwein-Gürtel, hinter seinem Wohlstand."
Stark sind in Münster andere. Traditionell zum Beispiel die Grünen, die auf fast 15 Prozent kamen. Auch die FDP mit diesmal über 13 Prozent. Da weicht Münster vom Bundesschnitt ab. Es ist anders als anderswo. „Es sind keine Mainstream-Leute", sagt auch Stefan Jürgens. Er ist kein Politiker, aber Pfarrer der Heilig-Kreuz-Kirche, die wuchtig im Kreuzviertel aufragt, und in der es beizeiten auch politisch zugeht. „Sie wollen nichts einfach geschehen lassen, sondern die Dinge bewusst angehen."
Wofür das Kreuzviertel in Münster nicht repräsentativ ist, ist die hohe Studentenzahl in der Stadt. In den siebziger Jahren haben sie noch dort gelebt, als die Wohnungen sanierungsbedürftig waren - nicht luxussaniert wie heute. Auch Tillmanns Zeit im Bezirk hat damals in einer Fünfer-Wohngemeinschaft begonnen. Inzwischen spielt sich studentisches Leben vor allem woanders ab. Aber sie sind weiter da - und dem Ergebnis der AfD nicht zuträglich. „Wir sind eine extreme Studentenstadt", sagt Christoph Jauch, ein Händler aus dem Viertel, „und bei denen kommt die AfD gar nicht gut an."
Über 50.000 Studenten leben in Münster, ein doch erheblicher Anteil bei rund 300.000 Einwohnern. Wenn AfD-Mann Schiller über die Unistadt Münster spricht, redet er von „stark links indoktrinierten studentischen Bewegungen". Es sind, etwas überspitzt, die Gegner, nicht die Wähler. Im Wahlkampf, berichtet Jauch, der in der FDP aktiv ist und einen Feinkostladen führt, sei es teils heftig zugegangen. Es sei teils ungemütlich geworden, an einem Wahlkampf-Stand der AfD kam es sogar zu einer Rangelei mit Leichtverletzten.
Münster - zu sehr heile Welt für die AfD? Zumindest im Kreuzviertel scheint das so. Wie eigentlich in der gesamten herausgeputzten Innenstadt, durch die zufriedene Menschen laufen. Es gehört aber zur Wahrheit, dass es auch den Stadtteil Coerde gibt. In diesem Münsteraner Wahlbezirk hat die AfD immerhin 10,7 Prozent geholt. Es ist das, worauf AfD-Mann Schiller zielt: „Wenn die Regierung so weitermacht - etwa in Sachen Familiennachzug - wird sich die Situation auch in Münster ändern. In manchen Stadtteilen sieht man bereits erste Anzeichen", sagt er. Noch stehen da aber insgesamt die 4,9 Prozent. Und die Struktur der Stadt deutet nicht auf einen großen Wandel hin. Ein Rezept gegen die AfD haben die Münsteraner allerdings auch nicht.