Erwachsene haben kaum Erinnerung an ihre frühe Kindheit. Die ersten drei Lebensjahre liegen im Nebel. Diese Kindheitsamnesie verblüfft Psychologen seit mehr als 100 Jahren. Denn Kleinkinder sind keine Wesen ohne Gedächtnis. Sie wissen durchaus, was bei ihrem letzten Geburtstag oder beim Besuch im Zoo passiert ist. Schon Zweijährige können von solchen Ereignissen berichten. Doch irgendwann während des Älterwerdens setzt offenbar das Vergessen ein. Nur wann?
Psychologen der Emory University in den USA haben nun gezeigt, dass die Erinnerungen an die frühe Kindheit im Alter von sieben Jahren zu verblassen beginnen. Dieser Zeitpunkt war zuvor zwar schon vermutet worden. Studienautorin Patricia Bauer sagt jedoch, bislang habe es keine Belege für diese These gegeben.
Für ihre Untersuchung befragten Bauer und ihre Koautorin Marina Larkina 83 Kinder und ihre Eltern. Beim ersten Besuch im Labor berichteten die zu diesem Zeitpunkt Dreijährigen über sechs Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, etwa einen Zoobesuch, den ersten Tag im Kindergarten oder eine Geburtstagsfeier.
Mehrere Jahre später sollten die jungen Probanden wieder von diesen Erlebnissen berichten. Bauer und Larkina teilten die Kinder in fünf Gruppen auf; jeder Teilnehmer erschien nur ein ein einziges Mal wieder im Labor: mit fünf, sechs, sieben, acht oder neun Jahren. Die Fünf- bis Siebenjährigen erinnerten sich noch an mehr als 60 Prozent ihrer früheren Schilderungen. Im Sinne der Wissenschaftler galt eine Erinnerung als vollständig, wenn die Kinder mindestens zwei einzigartige Details des ersten Berichts wiederholten.
Im Gegensatz dazu hatten Acht- und Neunjährigen schon den Zugang zu großen Teilen dieser Gedächtnisinhalte verloren. Sie konnten nur noch 35 Prozent der alten Geschichten nacherzählen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Vergessen der frühen Erinnerungen mit etwa sieben Jahren beginnt, meinen Bauer und Larkina.
Allerdings: Die Erinnerungen, die bei den älteren Kindern noch vorhanden waren, waren deutlich präziser als die der jüngeren. So berichteten die Acht- und Neunjährigen häufiger, warum, wo und wann ein Ereignis stattgefunden hatte. Sofern sie sich entsinnen konnten, enthielten ihre Berichte also mehr Einzelheiten.
Doch warum vergessen jüngere Kinder so viel? Dieser Frage gingen Bauer und Larkina in ihrer Untersuchung nicht nach. In früheren Veröffentlichungen weist Bauer jedoch auf die entscheidende Rolle der Hirnentwicklung hin. Bei Kleinkindern sind die entsprechenden Bereiche noch nicht voll einsatzfähig. So nimmt etwa der sogenannte Gyrus dentatus, eine kleine Struktur des Hippocampus, erst im Alter von 20 bis 24 Monaten so richtig seine Arbeit auf.
Während bei Erwachsenen eine im Langzeitgedächtnis abgespeicherte Information relativ fest sitzt, ist dies in jungen Jahren noch nicht der Fall. Wie Bauer und Larkina gezeigt haben, ist es eben keine Garantie für eine tiefe Verankerung, wenn sich Dreijährige an etwas erinnern können.
Wie gut Kinder sich Erfahrungen einprägen, hat zudem offenbar mit ihrer Sprachfähigkeit zu tun. Können sie Details mit Worten beschreiben, hilft das, sie im Langzeitgedächtnis zu verankern. Dazu passt, dass die Dreijährigen, die von ihren Eltern ermutigt wurden, von ihren Erlebnissen zu berichten, später auch mehr erinnern konnten.
In zukünftigen Untersuchungen wollen die amerikanischen Psychologinnen nun zeigen, wie genau sich das erwachsene Erinnerungssystem entwickelt.
Johannes Künzel Patricia J Bauer, Marina Larkina: The onset of childhood amnesia in childhood: A prospective investigation of the course and determinants of forgetting of early-life events. Memory, 2013, online vor Print. DOI: 10.1080/09658211.2013.854806 ( Link) Patricia J Bauer: Recall in infancy. A neurodevelopmental account. Current Directions in Psychological Science, 16/3, 2007, 142-146. DOI: 10.1111/j.1467-8721.2007.00492.x ( Abstract)