Wie geht es meinem Sohn, wie geht es meiner Tochter? Eltern beantworten diese Frage verblüffend ungenau, sagen die Psychologinnen Belén López-Pérez und Ellie Wilson von der Universität von Plymouth in England. Schließlich sollte man eigentlich davon ausgehen, dass gerade Mütter und Väter wissen, wie sich ihre Kinder fühlen.
Die Forscherinnen erhoben bei insgesamt 357 spanischen Kindern und Jugendlichen die Lebenszufriedenheit. Dabei baten sie sowohl den Nachwuchs als auch dessen Eltern um eine Einschätzung. Und siehe da - die Urteile unterschieden sich deutlich.
Je nach Alter der Kinder wichen die Erwachsenen in unterschiedliche Richtungen von der Realität ab. Zehn- und Elfjährigen wurde ein höheres Maß an Zufriedenheit unterstellt, als es die Selbsteinschätzung hergab. Dagegen hielten Eltern Jugendliche im Alter von 15 bis 16 Jahren für besonders unglücklich. Eine Einschätzung, die die Pubertierenden nicht teilten. Auf einer Skala von eins bis zehn gaben Erwachsene im Schnitt einen Glückswert von 5,5 für Teenager an. Diese jedoch schätzten ihre Lebenszufriedenheit auf einen Wert von 8.
Weitere Analysen ergaben, dass 70 Prozent der Mütter und Väter (wobei für diese Studie im Wesentlichen Mütter befragt wurden) von Zehn- bis Elfjährigen die Zufriedenheit ihrer Söhne und Töchter überbewerten. Dagegen klassifizierten die Wissenschaftler 78 Prozent der Eltern von 15- bis 16-Jährigen als Unterbewerter.
Die eigenen Emotionen als AnkerWie kommen die Erwachsenen zu ihren Fehlurteilen? Erhellend ist eine weitere Beobachtung von López-Pérez und Wilson. Denn die Daten deuten darauf hin, dass die Eltern sich nicht ganz von ihren eigenen Emotionen lösen konnten. Sie nutzen ihre Stimmung also als Ausgangspunkt, um über die Situation ihrer Kinder nachzudenken. Die Aussagen der Mütter und Väter reflektierten demnach eher, wie es ihnen selbst ging - und nicht, wie sich ihr Nachwuchs fühlte. Dabei erscheint es plausibel, dass Eltern von wilden Pubertierenden sich mehr Sorgen machen (Partys! Alkohol! Sex!) als jene von vergleichsweise friedlichen Zehn- und Elfjährigen. Ein weiterer Grund: Teenager nabeln sich mehr und mehr von ihren Eltern ab. Wie es ihnen geht, teilen sie eher mit Freunden als mit Mama oder Papa. Mit diesen dagegen nehmen Streitigkeiten zu ("Muss ich wirklich schon um elf zu Hause sein?").
Bisher hatten Forscher eine solch verzerrte Einschätzung von Erwachsenen gegenüber ihren Söhnen und Töchtern vor allem bei Eltern mit psychischen Problemen beobachtet. Beispielsweise fällt es Müttern mit Angststörungen oder Depressionen oft nicht leicht, die Emotionen ihres Nachwuchses richtig einzuschätzen. Doch die Befunde von López-Pérez und Wilson zeigen, dass solche Fehlurteile offenbar auch bei anderen Familien vorkommen.
Johannes Künzel
Belén López-Pérez, Ellie L. Wilson: Parent-child discrepancies in the assessment of children's and adolescents' happiness. Journal of Experimental Child Psychology, 139, 2015, 249-255. DOI: 10.1016/j.jecp.2015.06.006 Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/2016 von Psychologie Heute erschienen. Weitere Meldungen finden Sie im Heft in den Rubriken Themen&Trends sowie Körper&Seele