Aus der Soundanlage am Karl-Marx-Kopf dröhnt Techno, viele der Anwesenden sind offensichtlich betrunken, ein paar Männer strecken ihre nackten Hintern den Kameras entgegen. Tausende Rechte sind am Montagabend in Chemnitz dem Aufruf zu einem "Trauermarsch" gefolgt. Die meisten von ihnen sind junge Männer in dunkler Kleidung, einige Ältere mit schwer zu deutenden Fahnen sind unter ihnen, die Mehrheit hat sich aus einem gewaltbereiten Kameradschafts- und Hooliganmilieu rekrutiert.
Die Bürgerbewegung Pro , die mit drei Sitzen im Stadtrat vertreten ist, hatte dazu aufgerufen. Gekommen sind überregionale Kader wie Tony Gentsch und Michel Fischer von der rechtsextremen Partei Der Dritte Weg. Auch Neonazi Tommy Frenck, David Köckert (Ex-Thügida, heute Republikaner) und Rechtsrockveranstalter Patrick Schröder sind in der Masse zu erkennen.
Seit Tagen nutzen Rechtsextreme den tödlichen Messerangriff auf einen 35-jährigen Deutschen, um in Chemnitz zu mobilisieren. In der Nacht zum Sonntag wurde er am Rande eines Stadtfestes niedergestochen, ein Syrer und ein Iraker sitzen als Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Der Hintergrund ist nach wie vor unklar. Der Mann hatte sich auf Facebook gegen die AfD ausgesprochen, liebte Punkrock und bezeichnete als "Spinner".
Straftaten unter den Augen der PolizeiDie Journalistinnen und Journalisten haben sich am Montagabend so gut wie möglich gewappnet: Videoteams brachten eigene Securitykräfte in die Chemnitzer Innenstadt mit, Fotojournalisten Helm und Stichschutzhandschuhe. Auf dem angekündigten "Trauermarsch" kommt es bald zu Ausschreitungen, Flaschen fliegen, Böller werden gezündet und Journalisten angegriffen. Gewaltbereite Rechtsextreme können unter den Augen der wenigen Polizeibeamten Straftaten begehen.
Der Sprecher der Chemnitzer Polizeidirektion, Andrzej Rydzik, bezeichnet es am Abend als "Prinzip der Deeskalation", dass die Beamtinnen und Beamten Straftaten nicht direkt verfolgten. Schließlich habe man die Taten per Video dokumentiert. Er räumte ein, dass die Polizei die Teilnehmerzahl unterschätzt habe, zu wenige Beamte seien vor Ort gewesen.
Am Hang des gegenüberliegenden Stadthallenparks zeigen zu Beginn der rechten Kundgebung etwa 1.500 Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten Transparente. Die Jagd auf Migranten am Vortag wollen sie nicht hinnehmen, viele fühlen sich an die Ereignisse 2015 in Heidenau erinnert. Die meisten Geschäfte sind auf Empfehlung der Polizei bereits geschlossen. Einzig eine Schokoladenbar, vielleicht 200 Meter vom Karl-Marx-Kopf entfernt, ist geöffnet. Geschäftsführer Peter Mattis sagt, er habe keine Angst. "Wer seinen Protest äußern will, wird doch wohl in der Lage sein, das friedlich zu tun."
"Ihr seid Deutsche!"Arthur Ö. bemüht sich währenddessen mit einem Megafon, die rechten Horden unter Kontrolle zu halten. Er ist Mitglied der Heimattreuen Niederdorf, eines Vereins, der im Erzgebirge aktiv ist und an rassistischen Protesten teilnimmt. Schon zu Beginn der Kundgebung zeigen einige Teilnehmer den Hitlergruß. Redebeitrag reiht sich an Redebeitrag, bis die Dämmerung einbricht.
Dann weicht die lange Polizeikette zurück, eine große Gruppe Rechtsradikaler drängt zu den Gegendemonstranten. Flaschen und Feuerwerkskörper fliegen auf Gegendemonstranten, die nun, wenige Meter entfernt, teils panisch über Geländer klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Augenzeugen zufolge wird der Angriff mit Wurfgeschossen beantwortet. Unvermittelt setzt sich der rechte Aufzug in Bewegung. Die Stimmung ist aufgeheizt. Immer wieder fliegen Flaschen, einige Demonstrierende rangeln mit der Polizei. Eine Gruppe Fotojournalisten kann gerade noch vor einem Angriff Vermummter flüchten. Es ist der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgibt.
Schließlich stoppt Arthur Ö. den Marsch und brüllt ins Megafon: "Ihr seid Deutsche!" und erklärt den Teilnehmern, wie sie in Reih und Glied zu laufen haben. Einige an der Demospitze sind da schon stark betrunken.
Nach der Ansprache verläuft der Marsch zunächst friedlich weiter. Die Menge skandiert: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!" Die Lage droht erneut zu eskalieren, als ein Böller auf die Polizei fliegt, der vermutlich die Rechten treffen sollte. Der Marsch zieht sich um den Chemnitzer Innenstadtring. Begleitet werden sie nur an der Spitze und am Ende von Polizisten. Dazwischen können die Neonazis über Hunderte Meter tun und lassen, was sie wollen. Die Polizei ist nur noch als Greiftrupp in besonders brenzligen Situationen wahrnehmbar, vor allem während der Abreise der Versammlungsteilnehmer.
Als schließlich auswärtige Gegendemonstranten von Polizistinnen und Polizisten zum Hauptbahnhof gebracht werden, lauern Vermummte im Gebüsch. Sie stürmen auf die Straße und bewerfen die Abreisenden, die Polizei kann eine völlige Eskalation erneut nur knapp verhindern.
Als die Vermummten im Schutze der Dunkelheit wieder verschwinden, gefolgt vom Stoßtrupp der Polizei, wird klar: Ein wenig Respekt haben sie vor der Staatsmacht, direkte Konfrontation mit den Einsatzkräften suchen sie nur selten. Bislang.