Rund 800 Neonazis und Hooligans, Jagdszenen auf vermeintliche Migranten, eine überforderte Polizei - für viele kam der spontane Aufmarsch diesen Ausmaßes unerwartet. Nach dem Verbot der Nationalen Sozialisten 2014 hatten sich viele Neonazis zurückgezogen, seit 2015 sinkt die Zahl rechtsmotivierter und rassistischer Angriffe nach Statistiken der Opferberatung RAA Sachsen. "Hatten sich die Angriffe im Zuge der rassistischen Mobilisierung gegen Geflüchtete 2015 und 2016 im Vergleich zu den Vorjahren nahezu verdoppelt, reduzierten sich diese wieder", hieß es Anfang März in einem Bericht der RAA. Insbesondere in den Schwerpunktregionen Dresden, der Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge und in Bautzen gingen die Zahlen zurück.
Doch der Eindruck der letzten Jahre trügt. In Chemnitz gibt es seit Jahrzehnten eine rechte Szene. Sie war in letzter Zeit lediglich nicht aktiv und zersplittert. Ihre Basis blieb.
Kurz nachdem in der Nacht zum Sonntag ein Mann im Chemnitzer Stadtzentrum erstochen wurde, begannen auf erste Spekulationen. Viele User mutmaßten über die Nationalitäten der Beteiligten und waren sich sicher, dass die Täter unter den Geflüchteten zu suchen seien. Die Polizei gab zu diesem Zeitpunkt noch keine Informationen über die mutmaßlichen Täter bekannt, dennoch veröffentlichte die Hooligangruppe Kaotic Chemnitz wenige Stunden später einen Aufruf auf Facebook unter dem Motto "Zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat". Er richtet sich an alle Fans des Chemnitzer FC (CFC) - ein Novum in der Stadt. Kaotic Chemnitz ist seit 2012 mit einem Erscheinungsverbot im Stadion belegt, unter ihren Mitgliedern sind Chemnitzer Kameradschafter. Bislang mobilisierten sie aber eher unter sich.
Dabei gibt es unter den CFC-Anhängern viele mit latent rechten Einstellungen. Einzelne waren wiederholt in die Schlagzeilen geraten, als sie dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beschimpften, 2006 zeigte eine Gruppe rote Flaggen auf weißem Grund, bei denen nur das Hakenkreuz fehlen würde, und immer wieder kam es zu Provokationen gegen als linksalternativ geltende Vereine, zuletzt Anfang August gegen den SV Babelsberg 03. Dort hissten CFC-Fans eine Reichskriegsfahne und zeigten den Hitlergruß. Dennoch waren die meisten Fans nicht als politische Akteure in Erscheinung getreten und nahmen auch nicht an Neonazimobilisierungen wie von der oder der Partei Der III. Weg teil. Als Kaotic am 26. August rief, folgten sie aber, auch Familien mit Kindern.
Zuletzt waren Fußballfans in den Neunzigern als gewaltbereit aufgetreten. Damals gab es die Gruppe Hoonara, eine Abkürzung für Hooligans, Nazis und Rassisten. Sie prügelte sich mit anderen Hooligans und griff politische Gegner an, wie etwa das lokale Alternative Jugendzentrum. Hoonara ist schon lange inaktiv, ihre Mitglieder sind es nicht. Sie sind heute Mentoren für junge , spielen in Rechtsrockbands und arbeiten in Securityunternehmen. Hoonara-Gründer Thomas H. sagte 2007 in einem Interview dem Fußballmagazin Rund, dass die Ex-Mitglieder trotz Inaktivität jederzeit erreichbar seien. Wenn man gebraucht werde, sei man in einer halben Stunde da. Bis heute dürfte sich daran nicht viel geändert haben. 2010 griffen etwa 30 bis 40 Fans des CFC ein alternatives Wohnprojekt und davorstehende Menschen mit Flaschen und Steinen an. Das Gewaltpotenzial, das zeigte sich an dem Tag, war nie mit Hoonara verschwunden.
Heute sind die Chemnitzer Neonazis nahezu alle in der Fanszene aktiv, die in den letzten Jahren ihre einzige Organisationsbasis gewesen sein dürfte. Bis 2014 galten die Nationalen Sozialisten Chemnitz neben der lokalen NPD als Sammelbecken radikaler und gewaltbereiter Rechter. Nachdem das Sächsische Staatsministerium des Innern die Kameradschaft verboten hatte, begann für sie eine unsichere Phase. Das Ministerium belegte sie mit einem Wiederbetätigungsverbot, ein Weitermachen unter neuem Namen hätte Ermittlungen nach sich gezogen.
Manche Mitglieder schlossen sich daraufhin eher erfolglos der Partei Der III. Weg und der NPD-Jugendorganisation JN an, 2016 gründeten einige das sogenannte Rechte Plenum. Die Gruppe war medial professionell vertreten und trat radikal-aktionistisch auf. Ihr Ziel: Auf dem Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg einen "Nazikiez" errichten. Damit meinte die Gruppe um die zugezogenen Neonazis Patrick K. und Karl S. eine national-befreite Zone, womit die extreme Rechte in den Neunzigerjahren bereits ganze Dörfer zur No-go-Area für Migranten und Andersdenkende gemacht hatte. Nachdem gegen die Gruppe ermittelt wurde und ein anonymes Outing im Internet sie bloßgestellt hatte, löste sie sich auf. Die extra zugezogenen Neonazis zogen wieder weg. Ein Dutzend altbekannter Chemnitzer Neonazis waren wieder ohne eine eigene Organisation.
Nach den Ausschreitungen von Freital und Heidenau entstanden in Chemnitz asylfeindliche Gruppen, die gegen Asylunterkünfte protestierten. Besonders in der Peripherie, in den Stadtteilen Ebersdorf, Einsiedel und Kappel, formierten sich gleich mehrere Bündnisse, vereinzelt kam es zu Gewalttaten. Im Stadtteil Markersdorf kam es im Oktober 2015 zur Blockade einer Turnhalle, die temporär als Notunterkunft für Geflüchtete genutzt wurde. Die Turnhalle befand sich nur wenige Hundert Meter vom sogenannten Nationalen Zentrum entfernt, einem Treff- und Wohnort Chemnitzer Neonazis. Ende 2010 hatte der Chemnitzer Rechtsrockhändler Yves Rahmel das Zentrum erworben und zur Verfügung gestellt. Als sich am Abend ein Gegenprotest sammelte, wurde dieser angegriffen und Fenster einer Kirchengemeinde eingeworfen, die die blockierten Geflüchteten aufgenommen hatte.
In Einsiedel mündete die Gewalt sogar in einen Brandanschlag auf das dortige Heim. An den Protesten beteiligt waren mehrere Rechte, die heute Positionen in der AfD haben, etwa der Ex-CDU-Politiker Nico Köhler oder der vormals parteilose Lars Franke. Auch ehemalige Mitglieder der NSC waren darunter. Die Proteste gegen Asylheime zeigten zum ersten Mal, dass die Neonazis, wenn es um Migranten geht, sich der Unterstützung aus bürgerlichem Milieu sicher sein können.
Mit Erstarken der AfD und sinkenden Einwanderungszahlen beruhigte sich die Lage wieder. In entstand Pegida, später auch in Chemnitz, dort spaltete sich die Gruppe aber und verlor an Mobilisierungskraft. 2018 machte die erstarkende Partei Der III. Weg mit einem bundesweiten Aufmarsch zum 1. Mai von sich reden. Die Demonstration konnte trotz großen Gegenprotestes ihre Route ungestört laufen. Das Organisationsbündnis des Tag der Deutschen Zukunft, einer jährlich an wechselnden Orten stattfindenden Versammlung, erklärte daraufhin, für kommendes Jahr ihren Aufmarsch wieder in Chemnitz durchzuführen.
Rechte Gruppen in Chemnitz halten sich also nicht besonders lange, haben sich über die Jahre aber ein Umfeld geschaffen, das sie unterstützt - auch in der Bevölkerung. Das könnte auch erklären, warum der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hier jahrelang in mehreren Wohnungen unerkannt bleiben und von dort aus Banküberfälle durchführen konnte. Ihr Unterstützerumfeld ist bis heute aktiv und zeigte sich auch beim Aufmarsch am Sonntagabend. Auch am Montagabend demonstrierten sie erneut. Dieses Mal mobilisierten sie aber bundesweit. Aufgerufen hatten bekannte Parteispitzen, Bürgerbündnisse, die Identitäre Bewegung und Hooligangruppen anderer Fußballvereine.