Das Abtreibungsrecht dürfte USA-weit bald Geschichte sein. Dagegen wettern die Demokraten - einerseits. Andererseits unterstützen sie einen Abtreibungsgegner.
Washington D.C. - Am 2. Mai führte ein Leak zu der Erkenntnis, dass der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der USA, vorhat, das Grundsatzurteil zum Abtreibungsrecht, Roe v. Wade, zu kippen. Sofort empörten sich Politikerinnen und Politiker der Demokratischen Partei darüber - allen voran US-Präsident Joe Biden, Vizepräsidentin Kamala Harris und die mächtige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi. Doch gleichzeitig macht diese zusammen mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Demokraten-Fraktion, Jim Clyburn, Wahlkampf für ihren Parteikollegen Henry Cuellar - einen der wenigen Abtreibungsgegner unter den Demokraten.
Henry Cuellar (66) vertritt den 28. Kongresswahlbezirk im US-Bundesstaat Texas seit 17 Jahren im US-Kongress in Washington D.C. Der gläubige Katholik steht am 8. November zur Wiederwahl und seine enzkonservativen Ansichten zur Abtreibung sind nicht sein einziges Problem: Neulich führte das FBI eine Razzia in Cuellars Privathaus durch, wegen seiner Geschäftsbeziehungen in Aserbaidschan. Der konservative Demokrat wird bereits zum zweiten Mal von Jessica Cisneros herausgefordert.
Abtreibungsgegner gegen Abtreibungsbefürworterin: Henry Cuellar gegen Jessica CisnerosDie 28-jährige hat wie auch Cuellar lateinamerikanische Wurzeln, doch im Gegensatz zu dem Amtsinhaber ist Jessica Cisneros eine progressive Demokratin. Neben dem Recht auf Abtreibung setzt sie sich für eine allgemeine Krankenversicherung (Medicare for All), die Reform des Wahl- und Einwanderungsrechts, Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte, eine Verschärfung des Waffenrechts, Klimaschutz, Bildung und eine Reform der Parteien- und Wahlkampffinanzierung ein.
Die junge Rechtsanwältin für Einwanderungsrecht und Menschenrechte ist für Henry Cuellar eine ernstzunehmende Gegnerin. Bei der Vorwahl der Demokraten 2020 unterlag sie ihm nur knapp mit drei Prozentpunkten. In der ersten Runde der diesjährigen Vorwahl lag Cuellar mit weniger als zwei Prozentpunkten vor Jessica Cisneros, sodass beide am 24. Mai nochmals in einer Stichwahl gegeneinander antreten müssen.
Wahl in Texas: Cisneros fordert Parteispitze auf, Cuellar die Unterstützung zu entziehenDie Latina möchte den Status quo indes nicht einfach hinnehmen und veröffentlichte eine Erklärung, in der es hieß: „Ich fordere die Führung der Demokratischen Partei auf, Henry Cuellar, dem letzten Abtreibungsgegner der Demokraten im Repräsentantenhaus, ihre Unterstützung zu entziehen. Da die Demokratische Mehrheit im Repräsentantenhauses auf dem Spiel steht, könnte er die entscheidende Stimme hinsichtlich der Zukunft unserer reproduktiven Rechte sein und wir können es uns nicht leisten, dieses Risiko einzugehen."
Das Establishment der Demokraten scheint bereit, dieses Risiko einzugehen, doch Jessica Cisneros hat in ihrem Wahlkampf hochkarätige Unterstützer:innen: Sie weiß die beiden linken Senatoren Bernie Sanders und Elizabeth Warren an ihrer Seite, ebenso wie die prominente progressive Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez aus New York.
Mit ihrer Unterstützung für Henry Cuellar gibt die Parteispitze der Demokraten, wie sie es seit Jahren bei dem Senator Joe Manchin tut, erneut einem erzkonservativen Parteikollegen gegenüber einer Progressiven den Vorzug. Damit behält zwar gegebenenfalls der Amtsinhaber seinen Sitz, doch es befinden sich dann auch Mitglieder in ihren Reihen, die erstaunlich oft mit den Republikanern und gegen die eigene Partei abstimmen.
Texas: Zwei Drittel der Latinos in dem Bundesstaat befürworten das Recht auf AbtreibungDie Unterstützung der Parteiführung für Cuellar „zeigt die kognitive Dissonanz, die gerade im Gange ist", sagte Jessica Cisneros gegenüber The Intercept. „Die demokratische Führung sagt das Eine und tut das Andere, indem sie den letzten Demokratischen Abtreibungsgegner im Kongress unterstützen, nämlich Henry Cuellar. Ich bin mehr als bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um die Agenda der Demokraten umzusetzen", so Cisneros weiter. „Ich hoffe, dass die Führung der Demokratischen Partei nicht im Wege steht, für die Menschen hier etwas zu leisten."
Wie stehen die Menschen in Texas zum (Wahlkampf-)Thema Abtreibung? Laut einem aktuellen Bericht des Texas Politics Project lehnt eine Mehrheit der texanischen Wähler:innen ein Verbot aller Abtreibungen ab, falls Roe v. Wade vom Supreme Court aufgehoben wird. Eine Umfrage von NBC News wurde vor etwa einem Jahr durchgeführt, kurz nachdem Texas ein Anti-Abtreibungsgesetz verabschiedet hatte, das fast alle Schwangerschaftsabbrüche in dem Bundesstaat verbietet. Die Erhebung ergab, dass ein hoher Anteil der Latinos in Texas das Recht auf Abtreibung befürwortet - 63 zu 35 Prozent.
Es daher höchst fraglich, ob ein Anti-Abtreibungs-Demokrat gegen einen Republikaner oder eine Republikanerin wird bestehen können, wenn ein zu großer Anteil der Demokraten-Wählerschaft am 8. November bei den Zwischenwahlen (midterm elections) zu Hause bleiben sollte. Zumal Vorwürfe der ungerechtfertigten Bereicherung im Amt, die gegen Henry Cuellar im Raum stehen, bei allen Wähler:innen, unabhängig von der Parteipräferenz gleichermaßen verhasst sind. (Johanna Soll)