Das Oberste Gericht der USA könnte das Recht auf Abtreibung einschränken. Eine Analyse von Johanna Soll.
Washington, D.C. - Die Menschen, die vor dem Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der USA, in Washington D.C. demonstrierten, haben eine klare Meinung zum Thema Abtreibung. Sie sind entweder dafür oder dagegen. Am 1. Dezember 2021 fand die Anhörung des Falles Dobbs v. Jackson Women's Health Organization statt, in dem das Gericht darüber entscheiden wird, ob das Recht auf Abtreibung in den USA eine Einschränkung erfährt. Eine klare Haltung des Gerichts war zwar noch nicht erkennbar, wohl aber eine starke Tendenz.
In dem Rechtsstreit Dobbs v. Jackson Women's Health Organization geht es um die Verfassungsmäßigkeit eines Abtreibungsgesetzes des Bundesstaates Mississippi. Das Gesetz erlaubt Schwangerschaftsabbrüche nur noch bis zur 15. Schwangerschaftswoche, anschließend ist eine Abtreibung lediglich in einem medizinischen Notfall oder bei schwerer Missbildung des Fötus zulässig. Gegen dieses Gesetz klagt nun in letzter Instanz die einzig verbleibende Abtreibungsklinik Mississippis, Jackson Women's Health Organization.
Die Klinik argumentiert, das Abtreibungsgesetz verstoße gegen den Präzedenzfall Roe v. Wade aus dem Jahr 1973. Darin hatte der Supreme Court entschieden, dass ein grundsätzliches Recht auf Abtreibung besteht - und zwar bis zur Lebensfähigkeit des Fötus', die ungefähr in der 24. Schwangerschaftswoche eintritt. In einem späteren Urteil von 1992, Planned Parenthood v. Casey, hatte der Supreme Court entschieden, dass jedes Gesetz, das das Abtreibungsrecht einschränkt, verfassungswidrig ist.
Bei der Anhörung vor dem Supreme Court ließ sich anhand der Fragen und Anmerkungen der konservativen Richter:innen entnehmen, dass diese sich eine Beschränkung des bisher geltenden Abtreibungsrechts zumindest vorstellen können. Die drei moderaten Richter:innen warnten dagegen, dadurch könne der Oberste Gerichtshof wie ein politisches Gremium erscheinen, das Rechtsprechung zu Abtreibungen aufhebt, auf die sich das Land seit Jahrzehnten verließe.
In der Tat ist der Supreme Court in seiner derzeitigen Besetzung kein unpolitisches, ideologiefreies Organ, da die Ernennung der letzten drei Richterstellen parteipolitisch geprägt war. Die Richter:innen Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett wurden allesamt vom früheren Präsidenten Donald Trump ernannt und gelten als erzkonservativ. Von den neun Richter:innen sind aktuell sechs konservativ und drei eher links zu verorten. Mit diesen Mehrheitsverhältnissen könnte sich ein Vorhaben der religiösen Rechten in den USA endlich erfüllen - die starke Einschränkung des Rechts auf Abtreibung, bis hin zum kompletten Verbot.
Der Präzedenzfall Roe v. Wade war Abtreibungsgegner:innen von Anfang an ein Dorn im Auge. Deshalb versuchten sie immer wieder, ihn mit Gesetzen zu umgehen. Zuletzt erließ das Landesparlament von Texas im August ein Gesetz, das Abtreibungen ab der sechsten Schwangerschaftswoche verbietet - einem Zeitpunkt, zu dem viele Frauen nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. Konservative halten das Rechts eines Fötus' ausgetragen zu werden für wichtiger, als das Recht einer Frau, über ihr Leben und ihren Körper zu bestimmen.
Allerdings handelt es sich bei den sogenannten „Pro-Life"-Fanatikern in den USA um eine Minderheit - wenn auch eine einflussreiche. Die Mehrheit der Amerikaner:innen möchte an dem Präzedenzfall Roe v. Wade festhalten. In einer aktuellen Umfrage von ABC News und der Washington Post sprechen sich 60 Prozent der Befragten dafür aus, 27 Prozent wollen eine Abkehr von der bisherigen Abtreibungsrechtsprechung. Einer von ihnen ist der ehemalige US-Vizepräsident Mike Pence, der am Dienstag sagte, er hoffe, das Urteil Roe v. Wade lande „auf dem Aschehaufen der Geschichte, wo es hingehört".
Würde der Supreme Court mehrheitlich die Meinung von Mike Pence teilen und Roe v. Wade aufheben, böte sich folgendes Szenario: Die einzelnen Bundesstaaten könnten das Abtreibungsrecht neu regeln, da über den Präzedenzfall hinaus keine gesetzliche Grundlage besteht. Republikanisch regierte Staaten würden entweder restriktive Abtreibungsgesetze erlassen, oder gleich Abtreibungsverbote. Ihr Recht auf Schwangerschaftsabbruch wahrnehmen, könnten Frauen nur noch in demokratisch regierten Bundesstaaten. Frauen, die zu arm sind, um sich für eine Abtreibung in einen solchen Staat zu begeben, bleibt nur die Möglichkeit einer illegalen Abtreibung oder, das Kind zwangsweise auszutragen. Letzteres hält die konservative Supreme-Court-Richterin Amy Coney Barrett für eine praktikable Option - man könne das Baby ja anschließend zur Adoption freigeben.
US-Präsident Joe Biden hingegen unterstützt das Recht auf Abtreibung, wie es in Roe v. Wade entschieden wurde. Doch wie so oft seit seinem Amtsantritt wird der Anschein erweckt, den regierenden Demokraten, die den Präsidenten stellen und außerdem sie Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses, seien die Hände gebunden. Doch das ist nicht der Fall - den Demokraten stehen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung: Zum einem könnten sie ein Gesetz erlassen, das das Abtreibungsrecht gesetzlich normiert und bereits existiert. Der Women's Health Protection Act (Gesetz zum Schutz der Frauengesundheit) wurde im September im Repräsentantenhaus verabschiedet und droht im Senat an der Filibuster Regel zu scheitern. Diese Regel könnten die Demokraten jedoch einstimmig abschaffen - vorausgesetzt, der politische Wille wäre vorhanden. Zum anderen könnten die Demokraten den Supreme Court mit weiteren Richter:innen besetzen. Denn die genaue Anzahl der Richterstellen ist nicht in der Verfassung bestimmt.
Doch entschlossenes Handeln ist nicht Sache der Demokraten, weshalb auch nicht zu erwarten ist, dass eine der beiden Optionen umgesetzt wird. Stattdessen wird gebannt abgewartet, wie der Supreme Court in diesem fundamentalen Fall entscheiden wird, in dem es um Frauenrechte geht. Das entsprechende Urteil wird Ende Juni 2022 erwartet.
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