Inmitten der gewaltigen Geräuschkulisse des Hauptbahnhofs lädt ein Klavier zum Musizieren ein. Unscheinbar steht es zwischen den Sitzgruppen vor den Imbissläden. Es ist weiß gestrichen und mit einem schwarzen Filzstift bemalt. Häuser, Flugzeug, Noten sind zu sehen, und im Inneren der Klappe die Aufschrift „Bitte spielen Sie!" Musikschulleiter Aristo Khosrobeik hat das „Freiluftklavier" aufgestellt. Passanten sollen es ohne Berührungsängste ausprobieren und ins Gespräch miteinander kommen.
Am frühen Samstagnachmittag steht das Klavier verwaist da. Dann drängt ein älterer Herr seine Reisegefährtin, davor Platz zu nehmen, fotografiert sie. Kurze Zeit später setzt sich ein Betrunkener mit bekleckertem T-Shirt an das Piano, tippt mit gespielter Leidenschaft einzelne Tasten an. Der Bahnhof zischt und brummt. Der Lärm eines Presslufthammers, warmlaufende Zugmotoren und Durchsagen schallen durch die Halle.
Schwierige RahmenbedingungenPlötzlich betritt Leonhard Schneeberger die Bühne, steuert zielstrebig auf das Instrument zu. Der alte Mann setzt sich auf den dreckigen Klavierhocker und beginnt zu spielen. Er beugt sich nach vorne, seine Knie stoßen an die Vorderkante des kleinen Klaviers. Seine zittrigen Finger bewegen sich flink und sicher über die klebrigen Tasten. Er sei hergekommen, weil er in der Zeitung gelesen habe, dass hier ein Klavier stehe, erzählt der Rentner aus Niederursel. Klavierspielen sei in seiner Jugend wie eine Sucht gewesen, fast wäre er Pianist geworden.
Schneeberger spielt Improvisationen, meist beginnt er mit einem Motiv aus einem klassischen Stück und improvisiert dann einige Minuten über diesem. Ab und zu kommentiert er sein Spiel. „Jetzt werde ich fantasieren, ein bisschen auf Kitsch" oder „In Fis-Dur klingt es besser, das ist noch nicht so verbraucht." Immer wieder bleiben Passanten stehen und machen Videoaufnahmen mit ihren Smartphones. Ein junger Mann mit Stahlkappenschuhen und Piercings im Gesicht rückt einen Stuhl seitlich ans Klavier und hört für die Dauer mehrerer Stücke zu.
„Verstimmt, verstimmt", kommentiert Schneeberger in den kurzen Pausen. Die höchsten zwei Oktaven haben Kaffeespuren, einzelne Tasten klemmen. Ein Bettler mit starrem Blick hält ihm seine offene Hand direkt vors Gesicht. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen erschafft Schneeberger mit seiner Musik eine Insel im Bahnhofslärm, wo Passanten gerne verweilen. Ab und zu versucht er, seine Zuschauer zum Spielen zu animieren - erfolglos.
Quietschende ZugbremsenDann nähern sich vier Gestalten ganz in Weiß. Julianna Wilde ist mit ihrem Mann und einem befreundeten Paar auf der Durchreise zur „Just White"-Party auf dem Hessentag in Rüsselsheim. Für wenige Minuten übernimmt Wilde das Klavier und spielt eine Melodie. „Als Kind wollte ich immer Klavier spielen, hatte aber keine Möglichkeit dazu. Meine Finger haben gezittert, wenn ich ein Klavier gesehen habe, so sehr wollte ich spielen", erzählt sie. Dann zog ihre Familie von Kasachstan nach Deutschland. Vom ersten Geld kauften die Eltern ihr ein Keyboard zum Geburtstag.
Sie spielt nur wenige Minuten, dann überlässt sie das Klavier wieder Schneeberger und wünscht sich einen Walzer. Während er spielt, tanzt sie mit ihrem Mann ein paar Runden durch die Bahnhofshalle, dann machen sie sich auf den Weg zum Hessentag. Schneeberger bleibt am Klavier sitzen, seine Improvisationen werden immer länger. Fast drei Stunden ist er schon da. „Ich bleibe noch etwas, wenn mich keiner ablösen will", sagt er. Immer wieder halten Passanten an, Jugendliche mit Shoppingtaschen, Obdachlose, Menschen auf der Durchreise. Eine Taube pickt auf dem Boden vor dem Klavier. Im Hintergrund quietschen Zugbremsen.