Der Imam schließt kurz die Augen und faltet die Hände. Es ist Freitagmittag, kurz nach dem Gebet. In einem lichtdurchfluteten Besprechungszimmer über der Moschee in Penzberg sagt Benjamin Idriz, was er in den vergangenen Tagen immer wieder gesagt hat: Dass er die Angriffe der Hamas auf die Zivilbevölkerung Israels verurteile. Gleich am Tag nach den Anschlägen schrieb er in einer Mitteilung: "Es ist nicht islamisch, Menschen in ihren Häusern zu überfallen, zu töten oder zu verschleppen."
Benjamin Idriz, 51, stammt aus Mazedonien, er hat im Libanon promoviert und ist seit 28 Jahren der Imam von Penzberg. Bekannt ist er über seine idyllische Gemeinde im Süden hinaus wegen seiner Bücher, in denen er einem breiten Publikum den liberalen Islam aufschlüsselt. Erklären, Orientierung geben, so sieht er seine Rolle. Doch das ist im Moment schwieriger denn je.
Vergangene Woche waren antisemitische Hetze und Parolen gegen den jüdischen Staat bei einer Kundgebung auf dem Marienplatz im Herzen Münchens skandiert worden. Menschen hätten den Terror der Hamas gefeiert, hieß es aus dem Rathaus München. Einen Tag darauf kündigte der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) vor der Münchner Synagoge ein allgemeines Verbot propalästinensischer Demonstrationen an.
Idriz und weitere Imame Münchens kritisierten Reiter für seinen Vorstoß. Die muslimische Community brauche einen Raum, um ihre Bestürzung über den Krieg in Gaza zu äußern. "Es gibt viele Verwandte und Angehörige von Palästinensern in München", erläutert Idriz die Forderung. Man müsse diese trösten und ernst nehmen.
Reiters Demonstrationsverbot wurde schließlich aufgehoben. So entschied am vergangenen Donnerstag der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Eilverfahren. Das Gericht unterstrich, dass zwar bundesweit Straftaten in Bezug auf die derzeitige Situation in Israel und Palästina verübt wurden. In München sei es bei ähnlichen Versammlungen aber zu keinen oder geringen Störungen der öffentlichen Sicherheit gekommen, daher sei das Demonstrationsverbot nicht gerechtfertigt.
Aber wie schützt man ohne ein Verbot von Demos die Jüdinnen und Juden vor antisemitischen Parolen - und vor Gewalt?
Im Besprechungszimmer in Penzberg klingelt Idriz' Handy. Das Münchner Rathaus ruft an. Idriz hatte sich am Vormittag mit Oberbürgermeister Reiter und anderen Imams getroffen. Sie sind sich einig, dass dringend deeskaliert werden müsse. Ihre Idee: Gemeinsam mit den Mitgliedern des Muslimbeirats und Dieter Reiter soll ein Friedensgebet oder eine Mahnwache in München organisiert werden, Zeitpunkt noch unklar. Am Telefon wird an den letzten Formulierungen der Mitteilung gefeilt. Man möchte "ein deutliches Zeichen setzen", so Idriz. In dem Statement wird es heißen: "Wir verurteilen den Terror gegen die Zivilbevölkerung in Israel durch die Hamas und rufen dazu auf, die Gewalt sofort zu beenden. Genauso verurteilen wir die Gewalt an der Zivilbevölkerung in Gaza und fordern ein sofortiges Ende."
Hinter Benjamin Idriz' Schreibtisch an der Wand hängt ein Bild, darauf steht: "Wer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt, soll gute Nachbarschaft pflegen", ein Zitat aus den Hadith, den überlieferten Leitsätzen des Propheten Mohammed. Idriz sagt: "Der Krieg in Israel und Gaza ist kein religiöser Krieg, sondern ein rein politisches Problem. Der Islam hat kein Problem mit Juden, im Gegenteil, unsere Religionen sind sich sehr nah."
Wie er sich dann die antisemitischen Ausschreitungen in Berlin und anderswo erkläre, den Hass auf alles Jüdische, der dort geäußert werde? Idriz antwortet: "Es gibt immer Radikale in jeder Religion." Er will intensiver denn je auf die jüdische Gemeinde zugehen und demonstrieren, "dass wir als Muslime ihre Sorge als eigene Sorge, ihr Leid als eigenes Leid betrachten. Ihre Zukunft hängt von unserer Zukunft ab und unsere von ihrer".
Dass propalästinensische Demos nicht verboten werden, sorgt für tiefes Unbehagen bei Jüdinnen und Juden in München. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultus Gemeinde in München, teilte auf Anfrage von ZEIT ONLINE schriftlich mit:
"Gerichtsentscheide muss man akzeptieren, aber verstehen können wir sie nicht." Dass auf Münchner Straßen wieder Hass gegen Israel verbreitet werden könne, habe Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinde, so Knobloch. Sie forderte die Stadt auf, strikte Auflagen festzulegen und konsequent durchzusetzen, dies sei in der Vergangenheit leider nicht immer geschehen.
Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Bayern ist seit dem Angriff der Hamas auf Israel deutlich gestiegen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Bayern verzeichnete bislang 35 Vorfälle mit Bezug zu den Ereignissen in Israel. "Kurzfristig hilft gegen Unsicherheit nur Sicherheit", kommentiert Knobloch die Zahlen. Man fühle sich in den jüdischen Einrichtungen zwar geschützt, doch könne jüdisches Leben nicht hinter einen solchen "eisernen Vorhang" verbannt werden. Knobloch rief auch die muslimischen Gemeinden und Islamverbände auf, einzuschreiten. Aus zeitlichen Gründen konnte sich Knobloch kurz vor dem heutigen Schabbat nicht mehr zu dem geplanten Friedensgebet äußern.
Wie kann die Stadt dafür sorgen, dass zukünftige Kundgebungen nicht eskalieren und Auflagen konsequent durchgesetzt werden? Die Fragen bleiben offen. Charlotte Knobloch hofft, dass propalästinensische Demonstrationen sich "nicht zu sehr den jüdischen Einrichtungen annähern". Eine Mahnwache allein wird in der Stadt keinen Frieden stiften.