Johanna Gollnhofer

Professorin für Marketing , St. Gallen

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Kühlschrank öffne dich!

«Verfallene Speisen: Sie sind zu retten, indem man sie durch Zucker wieder genießbar macht. Es heben sich vielmehr der salzige mit dem süßen Geschmack auf. Ein ebenso gutes Mittel ist, einige rohe Kartoffelscheiben in das Gericht zu tun. Man muß es dann noch ein paar Minuten kochen lassen. Der Salzgeschmack verschwindet dann von selbst.» (Zitat aus der Edeka-Kundenzeitschrift «Die kluge Hausfrau», 1932..)

Kniffe und Tricks wie Zucker und Kartoffelscheiben erlauben es der klugen Hausfrau von 1932, verfallene Speisen wieder servierfähig zu machen. Zu diesen Zeiten werden Brotreste auch noch als «schmackhafte Speisen» angepriesen (ibid.). Heute wird kaum einer von uns zu Zucker und Kartoffelscheiben greifen, um «verfallene» Speisen wieder aufzuwerten. Die Realität heutzutage sieht anders aus: Tonnen von geniessbaren Lebensmitteln landen im Müll. In der Schweiz sind mindestens ein Drittel der Lebensmittelverluste vermeidbar – dies entspricht unter anderem der Menge von CO2, wie sie laut einer Berechnung von WWF Schweiz von 500'000 Autos verursacht wird.

Von der Fettlücke zur Fresswelle

Wie ist es so weit gekommen? Historisch betrachtet war Essen seit jeher ein rares Gut. Insbesondere in der turbulenten europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt von zwei Weltkriegen, waren Nahrungsmittelengpässe für die breite Masse allgegenwärtig. Von Auswahl gar nicht zu sprechen! Die Speisepläne in dieser Zeit wurden von monotonen, sich wiederholenden Gerichten geprägt. In Deutschland sprach man zu Zeiten Hitlers sogar von einer «Fettlücke». Dieser Fettlücke folgte dann die «Fresswelle», welche insbesondere durch steigende Importe exotischer Lebensmittel geprägt war. Technologische Innovationen, die beinahe flächendeckende Verbreitung des Kühlschranks, verbesserte Kühlketten und auch die Einführung der Selbstbedienung veränderte unsere Beziehung zu den Lebensmitteln.

«Willst du was gelten, mach dich selten!» – so lautet ein Sprichwort. Jedoch waren Lebensmittel in allen Farben und Formen plötzlich allgegenwärtig. Herausgeputzt und hindrapiert werden Lebensmittel heute in ausgeleuchteten und kaufanregenden Regalen den hungrigen Mündern der Konsumentinnen und Konsumenten angeboten. Für einen monetären Gegenwert sind den Fantasien des Konsumenten keine Grenzen gesetzt.

Wertschätzung von Lebensmitteln

Im Grunde genommen scheint die Wertschätzung für Lebensmittel verschwunden zu sein. Umso erstaunlicher, ist Essen doch immer noch DER zentrale Anker in unserem Sozialleben: Für besondere Anlässe geht man ins feine Restaurant, Arbeitstage lässt man in der Familie beim Abendessen ausklingen und das Stück Kuchen an einem Date bringt einen näher zusammen.

Wie auch in anderen modernen Lebensbereichen scheinen Ästhetik und die äussere Erscheinung eine entscheidende Rolle zu spielen: Obst und Gemüse müssen ihrem äusserem Anschein nach einer gewissen Norm entsprechen und das Mindesthaltbarkeitsdatum ist der Todestag für viele Lebensmittel.

Esswaren und Getränke «sharen»


Ein öffentlicher Kühlschrank, den man öffnen kann und sich einfach for free Lebensmittel entnehmen kann, die sonst im Abfall landen? Klingt wie eine Illusion, ist in St.Gallen und anderen Schweizer Städten jedoch schon Realität. Der Verein RestEssBar sammelt täglich noch essbare Lebensmittel verschiedener Lebensmittelläden der Stadt ein, welche sonst in der Mülltonne landen würden. In Deutschland gibt es eine ähnliche Initiative unter dem Namen «foodsharing».

Wie andere Modelle innerhalb der Sharing Economy werden so brachliegende Ressourcen mobilisiert und kreativ weiterverwendet. Sharing durchdringt unsere Gesellschaft nicht nur durch neue Geschäftsmodelle, welche auf die Profitmaximierung der Anbieter ausgelegt sind (zum Beispiel Auto-Sharing). Vielmehr wird auch ein grundlegender Wert von Individuen mobilisiert. Teilen liegt in unserer menschlichen Natur – in unserer modernen Zeit wurde es nur über Marktmechanismen in die private Sphäre verbannt.

«Ist das profitabel für die Lebensmittelläden?», mag einer fragen. Nein, es wird kein direkter ökonomischer Wert für die Lebensmittelläden generiert, jedoch ein sozialer und ein kultureller Wert – die zu den Werten gehören, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft von grundsätzlicher Bedeutung sind.

Dr. Johanna Gollnhofer ist Research Associate am Institut für Customer Insight der Universität St.Gallen (FCI-HSG) und Assistenzprofessorin für Marketing an der University of Southern Denmark.
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