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Schon vor dem Coming-out als nicht binäre Person im Sommer 2020 hatte Kae Tempest ein Programm. Drei Soloalben waren zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem alten Namen von Tempest erschienen, voll mit politischer, wütender, immer sehr poetischer Rapmusik, außerdem einige Theaterstücke und Gedichtbände. Und vorher: Jugend in Südlondon, mit 16 Schulabbruch, Drogen gedealt, viel gesoffen, getourt durch abgeranzte Open-Mic-Clubs, gekämpft mit psychischen Problemen und der eigenen Geschlechteridentität.
Schreiben war dabei stets das Druckventil von Tempest, der einzig denkbare künstlerische Ausdruck und irgendwann auch, ganz offiziell, eine Existenzgrundlage. Heute ist Tempest 36 Jahre alt und gilt in Londoner Musik-, Bühnen- und Literaturkreisen gleichermaßen als Bezugsfigur. Letztes Jahr wurde in der britischen Hauptstadt Paradise uraufgeführt, Tempests Adaption eines Stücks des griechischen Klassikers Sophokles. Nun erscheint ein neues Rapalbum, The Line Is a Curve, heiß ersehnt und angekündigt als großes Szeneereignis. Warum ist das so?
Vor allem, weil Tempest immer unbeirrt vom eigenen Erfolg weitergeschrieben hat. Theaterstücke eben. Vier Lyrikbände, die in deutscher Übersetzung bei erschienen sind. Einen Roman, der auf Figuren aus alten Songs aufbaut und zuletzt den pandemisch beeinflussten Langessay On Connection. "Eine starke Stimme", so etwas liest man oft über Tempest, darin scheinen sich alle einig zu sein. Wegen Protestsongs wie Europe Is Lost aus dem Jahr 2016, in dem Tempest rappte, dass wir nichts aus der Geschichte gelernt hätten. Als politische Kunst wurde dieses Stück verstanden, und das stimmte ja auch. Aber eben nicht nur. Agitprop getarnt als Kunst war schon immer langweilig. Sich mit Rapmusik im eigenen Intellekt zu suhlen sowieso.
Die Schriftstellerin Helene Hegemann schrieb 2017 in einem Porträt für die über Tempest einen Satz, der ungewollt um einiges tiefer ging als das Gerede von der "starken Stimme". Tempest, hieß es bei Hegemann, sei "Taylor Swift für Leute mit Anspruch".
Damals war der Vergleich eher negativ gemeint, aber Sinn ergab er schon. Denn Tempests Lyrik und Songtexte sind viel mehr mit den Gepflogenheiten der Popmusik verknüpft, mit deren Codes, Looks und Bühnenperformances, als mit einsamer, verklausulierter Gegenwartslyrik. Oft verrennt sich solche Poesie in ihrer Formversessenheit und der Suche nach der Etymologie jedes einzelnen Wortes, bis alle nur noch Bahnhof verstehen. Tempest aber will und vor allem kann verstanden werden, nicht nur vom Bildungsbürgertum, genau wie Taylor Swift. Auch The Line Is a Curve macht bestehende Realitäten greifbar, indem es sie poetisiert.
Die deutsche Lyrikerin Monika Rinck schrieb in ihrem Buch Wirksame Fiktionen, dass das Gedicht im Dienst der Realität stehe. Daran orientiert sich Tempests Schreiben schon immer. Es bildet die Realität von Randständigen ab, von Außenseiterinnen und Menschen, die im gegenwärtigen, von Post-Thatcherismus, New Labour, Austerität und Brexit ruinierten England zu den Verlierern gehören. Eine Herangehensweise, die Tempest wiederum eher mit den derzeit relevantesten britischen Rap-Bewegungen Drill und Grime verbindet als mit Menschen, die sich gern mit dem vermeintlichen Anspruch ihres Musikgeschmacks brüsten.