DIE ZEIT: Herr Bolz, Sie sind 1988 geboren und in aufgewachsen, im Plattenbauviertel Knieper West. Heute leben Sie in Westberlin. Identifizieren Sie sich selbst als ostdeutsch?
Hendrik Bolz: Ja, auf jeden Fall. Meine Biografie ist ostdeutsch. Ich bin ostdeutsch.
ZEIT: Was bedeutet das für Sie?
Bolz: Ich bin groß geworden im Ostdeutschland der Nachwendejahre, da gab es keine Orientierung, so haben meine Freunde und ich das jedenfalls wahrgenommen. Alles war am Rutschen, die Erwachsenen waren damit beschäftigt, sich im neuen System zurechtzufinden. In den Neunzigern wurde dieses Vakuum in Knieper West, so wie in vielen anderen Teilen Ostdeutschlands, ausgefüllt durch Gewalt und auch durch Neonazi-Gruppen. Es hat mich natürlich geprägt, zu dieser Zeit an diesem Ort Kind und später Jugendlicher zu sein. Ich denke da nicht nur an die Arbeitslosigkeit, auch an die Fabriken, Kindergärten und Schulen, die geschlossen wurden. An die Politikverdrossenheit, die herrschte, nachdem viele der großen Einheits-Hoffnungen verpufft waren. In so einer Welt der Umbrüche groß zu werden, das sind Erfahrungen, die ich mit vielen Ostdeutschen teile, mit vielen Westdeutschen hingegen nicht.
ZEIT: Als Kind nimmt man seine Lebensrealität ja erst einmal hin, wie sie ist. Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass an Ihrer Jugend etwas besonders und auch nicht gerade gut war?
Bolz: Ich habe das erst spät realisiert. Auch als ich noch vor sieben, acht Jahren den Song Plattenbau O.S.T. geschrieben habe, wollte ich einfach nur davon erzählen, wo ich herkomme - viel mehr habe ich mir dabei nicht gedacht. Ich war lange blind für die historische Dimension meiner eigenen Erfahrungen. Dafür, dass ich in einen Systemwechsel hineingeboren wurde und dass sich die dunklen Flecken in meiner Biografie zum Teil daraus erschließen.
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ZEIT: Nun haben Sie ein autobiografisches Buch über diese Zeit geschrieben, das die dunklen Flecken nicht ausspart. Was hat Sie zum Umdenken gebracht?
Bolz: Es begann 2015 mit der sogenannten Flüchtlingskrise und dem Aufstieg der Neuen Rechten in Ostdeutschland. Als ich mir da die Kommentarspalten, die Videos von Pegida oder die Nachrichten von rechtsradikalen Ausschreitungen in und Freital ansah, habe ich gemerkt: Irgendwas macht das mit mir. Das erinnert mich an eine Welt, von der ich dachte, dass ich sie lange hinter mir gelassen habe.
ZEIT: Sie schreiben im Buch: "Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mich schützend vor meine Heimat zu stellen." Wie erklären Sie sich diesen Drang, den Osten zu verteidigen?
Bolz: Auch das hat 2015 begonnen. Man muss dazu wissen, dass ich sofort nach meinem Abitur im Jahr 2008 nach Berlin gezogen bin. Dort habe ich mir ein neues Umfeld gesucht, den Kontakt zu meinen alten Leuten Schritt für Schritt abreißen lassen - ich wollte nicht mehr an den Hendrik von damals erinnert werden. 2015 dann, als Pegida loslief, als die AfD so groß wurde und sich alle fragten, was denn nur los sei mit Ostdeutschland, da habe ich eine ziemliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten bemerkt. Eine Mentalität so nach dem Motto: Euch Idioten hätte man niemals aufnehmen dürfen. Das hatte ich vorher nie wahrgenommen, da war ich richtig getroffen und habe mich plötzlich mitgemeint gefühlt. Gleichzeitig haben mich die Szenen aus Heidenau oder auch selbst erschreckt. Ich fand das furchtbar und habe verstanden, dass es noch viel aufzuarbeiten gibt.
ZEIT: Haben Sie auch Ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten wollen? Im Buch schildern Sie sich einerseits oft als Opfer. Sie bekommen die Nase gebrochen, werden für Banalitäten wie Ihre Schuhe gemobbt. Andererseits prügeln Sie auch selbst, beleidigen andere rassistisch.
Bolz: Ja, und ich habe gelitten beim Schreiben. Da spielten Schuldgefühle und Scham eine große Rolle. Umso wichtiger war es mir, das alles genau so wiederzugeben. Mein Alltag in Knieper West war einfach geprägt von Gewalt. Es geht mir darum, da eine Linie sichtbar zu machen, zu erzählen, woher das kam.
ZEIT: Und woher kam das?
Bolz: Rechtsextremismus war die prägende Jugendkultur der frühen Nachwendezeit. Große, starke Jungs, die die besten Plätze auf den Spielplätzen hatten. Die Leute verprügelten und damit durchkamen. Auf die alle Mädchen standen. Ich bin aufgewachsen mit dem Gefühl, dass der Stärkere gewinnt und einem eh keiner hilft. Dass Gewalt alles regelt. Über die, die anders drauf waren, dachte ich: Ihr seid Lappen, ihr seid Träumer, ihr kommt unter die Räder.
ZEIT: Unter dem Stichwort " Baseballschlägerjahre" wurde über die erste Zeit nach dem Mauerfall viel debattiert. Wie haben Sie die Nullerjahre im Vergleich dazu erlebt?
Bolz: In den Neunzigerjahren war alles aufgeladen, alles war politisch. In den Nullerjahren regierte die Enttäuschung, die Massenarbeitslosigkeit. Da hieß es: "Links oder rechts? Lass mich in Ruhe mit dem Scheiß." Meine Freunde und ich hingen den ganzen Tag rum, hörten Rap und kifften uns zu. Mir ging es im Buch auch darum, zu zeigen, dass wir - obwohl wir uns als unpolitisch wahrgenommen haben - stark von der vorherigen Generation geprägt waren. Homophobie, Gewalttätigkeit, Sozialdarwinismus: Wir hatten viele Werte von den übernommen. Das merkt man auch an der Sprache im Buch. Ich habe sie eins zu eins so hart wiedergegeben, wie ich sie in Erinnerung habe. Es soll wehtun beim Lesen.
ZEIT: Sie sind als Teenager mit Ihren Eltern weg aus dem Plattenbauviertel gezogen und kamen auf ein Gymnasium in der Stralsunder Altstadt. Im Buch spielt das kaum eine Rolle. Haben Sie die Realität bewusst zugespitzt?
Bolz: Da würde ich widersprechen: Wie irritiert ich war, als ich das erste Mal mit den Lehrern und Schülern meiner neuen Schule zusammentraf - das ist für mich ein zentraler Punkt des Buches. Allerdings wollte ich bewusst Themen ansprechen, die sonst gerne ausgespart werden, die ich aber genau deswegen wichtig finde: Gewalt, Drogen, Frust. Klar, ich hatte auch schöne Strandtage mit meinen Großeltern auf Hiddensee. Darum sollte es aber nicht gehen. Ich wollte den Teil meiner Jugend aufarbeiten, den ich selbst verdrängt hatte. Und doch spüre ich auch heute noch immer einen gewissen Verteidigungsreflex.