Jochen Vorfelder

Journalist, Motorcycle Blogger, Twitter&Throttle Jockey, Hamburg

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Autogramm Honda VFR 800F: Eine komplizierte Liebe - SPIEGEL ONLINE

Der erste Eindruck:  So waren die Neunziger. Eckige Verkleidung, vollverschalt - die VFR 800 wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Honda baut die VFR 800 seit 1998 quasi unverändert; das aktuelle Modell ist das erste nennenswerte Update seit zwölf Jahren.

Das sagt der Hersteller: Für Honda war die VFR 800F zu Anfang ein reiner Technologieträger, ein Stolz der Entwicklungsabteilung. Heute leistet sich kein anderer Motorradbauer mehr ein Fahrzeug mit einem derart komplexen Antriebskonzept wie die Japaner mit der VFR 800-Baureihe.

Der sogenannte V-TEC-Motor funktioniert so: Ein V-Vierzylinder arbeitet bis 6500 Umdrehungen mit jeweils einem Einlass- und einem Auslassventil pro Zylinder. Gibt der Fahrer Stoff und die Drehzahl steigt über 6500 U/min, werden durch ein ausgeklügeltes Hydraulik-, Kanal- und Federnsystem eine zweite Nockenwelle und acht weitere Ventile zugeschaltet. Der Motor nutzt dann bis hoch in die Spitzen um 11.000 U/min insgesamt sechzehn Ventile statt acht. Während diese variable Ventilsteuerung im Automobilbereich ausgesprochen effektiv ist, sind bei Motorrädern die Vorteile beim Drehmoment gering.


Warum baut Honda baut also trotzdem einen so aufwendigen Motor? "Weil wir es können", sagt ein Techniker des Herstellers.


Projektleiter Masatsuga Tanaka, der bei Honda für die erste ernstzunehmende Überarbeitung der VFR 800-Baureihe seit 2002 verantwortlich ist, drückt es noch etwas liebevoller aus: "We love technology." Auf die Gegenliebe der Kundschaft stößt der Sporttourer VFR 800F allerdings nicht so oft - die weltweiten Verkaufszahlen liegen pro Jahr im niedrigen vierstelligen Bereich.


Das ist uns aufgefallen: Wenn die 242 Kilogramm ins Rollen kommen - und mit 106 PS und 75 Nm Drehmoment ist dafür genügend Dampf vorhanden - bügelt das Fahrwerk der VFR 800F mit der Einarmschwinge sowohl Unebenheiten als auch leichte Fahrfehler souverän aus.


Überhaupt ist die VFR 800F ein stabiles und manierliches Motorrad. In Spitzkehren will sie gedrückt werden; in den weiteren und langen Kurven findet sie umso spurtreuer selbst ihren Weg. Was in den Neunzigern des vergangen Jahrhunderts von Honda entwickelt wurde, ist heute noch funktional und im 2014er Modell weiter ergänzt oder verfeinert. Ergonomie und Sitzposition? Hervorragend. ABS? An Bord. Traktionskontrolle? Hat Honda im Griff.


Die wichtigste Verbesserung ist den Ingenieuren jedoch beim Motor gelungen: Nach mehr als zehn Jahren zähem Ringen der Entwickler schaltet das V-TEC-Aggregat jetzt tatsächlich ruckfrei von Zwei- auf Vierventilbetrieb um.


Aber manche Details irritieren: Die Rundung der Scheibe hätte zwecks eines besseren Windschutzes höher ausfallen können. Und warum man in ein übersichtliches und aufgeräumtes Cockpit einen derartig hässlichen Schalter für die Traktionskontrolle eindübelt, ist ein Rätsel. Angebrachter wäre es bei einem Sporttourer ohnehin gewesen, das ABS abschaltbar zu machen.


Das muss man wissen: Projektleiter Masatsuga Tanaka und seine Crew haben die flächig verkleidete VFR 800F nicht nur optisch aufgefrischt und insgesamt etwa acht Zentimeter schmaler gestaltet. Markant sind auch die jetzt wieder untenliegende Auspuffanlage und die neuen Aluminium-Gussräder.


Moderat geblieben ist der Preis: 12.285 Euro liegen im Mittel für dieses Fahrzeugsegment; teurer werden kann es noch durch das Touring-Zubehör, das Honda in Form von Seitenkoffern (770 Euro, plus 302 Euro für die Gepäckbrücke) sowie einem in zwei Größen erhältlichen Topcase anbietet. Einen Schaltautomaten braucht man an einem Sporttourer eher nicht - wer ihn trotzdem haben will, kann den Quickshifter für 199 Euro zukaufen.


Bei der Präsentation stand die VFR 800F in zwei Farbvarianten unter spanischer Sonne; in einem kräftigen Rot und einem eleganten, leicht glitzernden Weiß. In Deutschland wird die Maschine allerdings nur in Rot und Schwarz verkauft. Der Grund: Einer der Honda-Granden hierzulande bekommt schweres Magengrummeln, wenn er Weiß sieht - deshalb wurde es leider für den deutschen Markt nicht geordert. Schade.


Das werden wir nicht vergessen: Der Moment, wenn der Drehzahlmesser der VFR 800F über 6.500 U/min springt und sich die zweite Nockenwelle einklinkt. Ein leises Rasseln, und der Sound der Maschine ändert sich plötzlich - die acht zusätzlichen Ventile machen aus einem tiefen Brummen ein helles Aufschreien. Als ob ein Orchester mit Beethovens "Freude schöner Götterfunken" Verdis "Gefangenenchor" von der Bühne bläst.


Große Oper. So wie die VFR 800F müssen Motorräder klingen.




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