Jessica Wagener

Freie Autorin und Journalistin, Online-Redakteurin, Kolumnistin, Bloggerin,..., Glasgow

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Ist weniger wirklich mehr?

Der ganze Kleiderschrank ist voller Klamotten, trotzdem jammern wir, dass wir nichts anzuziehen haben. Im Regal verstauben die Bücher, aber wir ordern die nächsten Bestseller. Überall stapelt sich das Zeug und wir wollen und kaufen dennoch immer mehr. Glücklich macht das nicht. Aber was dann?

Downsizing lautet die Lösung! Jedenfalls, wenn man Trendforschern, Nachhaltigkeits-Experten, Bloggern und Buch-Autoren glaubt. Alles ein, zwei Nummern kleiner, bescheidener, weniger - und das Leben wird besser. Genial oder gaga?

„Anfangs war ich schon ein bisschen der Spinner", sagt Leopold Tomaschek, der noch zur Schule geht und sich selbst in Lüneburg ein Tiny House gezimmert hat. In den USA sind die zehn bis 30 Quadratmeter kleinen Mini-Häuschen auf Rädern eine Bewegung mit begeisterten Anhängern geworden.

„Allein ein Haus bauen, ob groß oder klein, ist anstrengend und komplex. Da kann man fast verrückt werden", sagt Leopold. „Aber der ökologische Aspekt fasziniert mich genauso wie die Vorstellung, mein Haus mitnehmen zu können."

45,2 Quadratmeter Wohnfläche braucht jeder Deutsche für sich

Dass immer mehr Menschen immer weniger Platz, Konsum und Besitz bevorzugen, hat aber nicht nur Umweltgründe: Wer wenig Wert auf materialistische Dinge legt, sticht hervor.

„Wenn man auf dem Golfplatz mit einem Dacia vorfährt oder als einziger im Freundeskreis ohne teure Uhr am Handgelenk erscheint, dann wirkt man besonders", erklärt der Diplom-Psychologe Frank Quiring vom rheingold Institut. Doch das muss man sich erst mal leisten können. Es geht nämlich nicht darum, gar nichts zu haben - sondern sorgfältig ausgewählte Dinge.

„Der Trend zum achtsamen Verzicht ist ein Phänomen der Wohlstandskultur und nur für die nachvollziehbar, die im Überfluss leben", sagt auch der Nachhaltigkeits-Experte Daniel Anthes. Mit anderen Worten: ein ziemliches Luxus-Problem.

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Doch weshalb genau fühlen sich Menschen besser, wenn sie sich dem Konsum verweigern? „Man hat das Gefühl, man kann Verführungen trotzen, ist stärker als die Gier. Das führt, wenn man es eine Zeit durchhält, zu mehr Selbstbewusstsein und damit zu einem Glücksgefühl", sagt Frank Quiring. Außerdem werde durch bewussten Verzicht ein tiefer Wunsch nach Stabilität erfüllt.

„Wir sehnen uns nach Überschaubarkeit. Durch weniger haben und kaufen entsteht das Gefühl von Kontrolle", erklärt Daniel Anthes. Die Welt um uns herum wird immer komplizierter. Globalisierung, Klimawandel, Krieg und Krisen - da sollen wenigstens die eigenen vier Wände ordentlich sein!

Mit diesem Bedürfnis verkauft die japanische Autorin Marie Kondo millionenfach Bücher. Dank ihrer „KonMari"-Methode zum Ausmisten hielten schon über sieben Millionen Menschen ihre Pullis in den Händen und grübelten angestrengt, ob sie dabei möglicherweise einen Funken Freude spüren. Wenn nicht - weg damit!

Zumindest laut Kondos Philosophie: „Nach dem Aufräumen fühlt man sich leichter, weil man nicht mehr aus Angst vor der Zukunft oder aus Sentimentalität an Besitz festhält." Wie an der Kiste mit den Fotos von der ersten Liebe, dem rostigen Raclette-Set, der gesprungenen Porzellanfigur . . . 2391 Euro Konsumausgaben hat jeder deutsche Haushalt pro Monat

Etwa 10 000 Gegenstände besitzen Deutsche rein statistisch - vor rund 100 Jahren waren es noch 180 pro Haushalt. Kein Wunder, dass wir uns da manchmal nach der Vergangenheit sehnen, in der das Leben einfacher und weniger stressig schien, in der andere Dinge wichtiger waren als Materielles - Gemeinschaft und Familie zum Beispiel, ein Leben im Einklang mit sich selbst und der Natur. Eine Zeit, in der alles einen eigenen, besonderen Platz hatte, auch der Mensch.

Wer sich heute also vor jeder Anschaffung fragt: Brauche ich das jetzt echt auch noch? sorge laut Daniel Anthes damit für langfristige Zufriedenheit: „weil wir die wenigen, aber wichtigen Dinge stärker wertschätzen".

Auch 85 Prozent aller Befragten der letzten Otto Trendstudie kaufen weniger und dafür bewusster. Über die Hälfte teilt, tauscht, leiht und recycelt zudem fleißig - vom Auto über die Wohnung bis zur Bohrmaschine. Das geht mit Apps wie Airbnb, Car2Go oder DriveNow und Shpock zumindest in Städten problemlos.

Darüber, dass weniger mehr sein soll, schrieb vor 16 Jahren schon der Autor Werner Tiki Küstenmacher. Sein Buch „Simplify Your Life" verkaufte sich allein in Deutschland über 3,5 Millionen Mal. Vereinfachen und verschlanken kann man demnach nicht nur den Besitz, sondern Termine, Finanzen und sogar die Beziehung - kein Lebensbereich, der sich nicht optimieren ließe.

Wer einfacher lebt und weniger besitzt, braucht logischerweise weniger Raum. So ähnlich hat auch Leopold Tomaschek gedacht, als er - inspiriert durch seine Freundin und ursprünglich im Rahmen eines Schulprojektes - die Idee zu seinem Tiny House hatte: „Für materiellen Konsum wäre hier gar nicht viel Platz. Ich schreibe Dingen aber auch nicht sehr viel Wert zu." Wichtiger seien ihm stattdessen Erlebnisse wie Reisen, Erfahrungen und Raum zum Denken.

Allerdings bringt das Leben in einem winzigen Haus eigene Herausforderungen mit sich: „In einem kleinen Raum ist es sehr wichtig dass alles optimal stimmt", sagt Leopold. Auch deshalb hat er es selbst entworfen und komplett nach seinen eigenen Vorstellungen maßangefertigt, den Grundriss vorher mühevoll 1:1 in den Sand gezeichnet, bis es passte. Und in sein sorgfältig entwickeltes Mini-Haus kommt auch nur das, was nötig und wichtig ist.

Klingt irgendwie verrückt? Jetzt mal Hand aufs Herz: Was von dem ganzen Kram auf dem Dachboden, in der Kammer oder im Keller gebrauchen wir denn überhaupt regelmäßig? Und wie oft werden Ess-, Gäste-, oder Arbeitszimmer tatsächlich genutzt? 4785 Kilo Müll produzieren wir pro Kopf jedes Jahr

Uns werde laut dem Berliner Architekten und Aktivisten Van Bo Le-Mentzel letztlich gar nichts anderes übrig bleiben, als unseren Wohnflächenbedarf drastisch zu reduzieren: „Wenn in 35 Jahren zehn Milliarden Menschen auf der Welt sind und jeder europäische Verhältnisse haben will - das sind 40 Quadratmeter pro Nase, fließendes Wasser und Strom - dann haben wir ein Problem."

In Deutschland fehle bisher allerdings noch die kulturelle Grundlage für Mini-Häuser. „Viele können sich nicht vorstellen, auf zehn Quadratmetern zu leben", meint Van Bo Le-Mentzel, der in Berlin ein ganzes Tiny-House-Dorf errichtet hat. Und zwar mit mehr Komfort, als man annehmen würde: „Hier leben Ministeriumsangestellte, Wissenschaftlerinnen und Kinder aus bürgerlichen Schichten. Die brauchen eine ordentliche Klobrille und ein cooles Design."

Rechtlich funktioniert das Aufstellen eines Tiny Houses in Deutschland momentan noch bestenfalls in einer Grauzone. Es kann beispielsweise entweder als Wohnwagen zugelassen oder als Gebäude angemeldet werden. Beides bringt eigene Hürden mit sich: In einem Wohnwagen darf man normalerweise keine Meldeadresse haben; beim Gebäude müssen bestimmte Auflagen eingehalten werden.

„Die Zahl wächst zwar stetig, aber ein Tiny House einfach so aufzustellen und als Erstwohnsitz anzumelden, ist noch nicht ohne weiteres möglich. Dafür müssen Sondergenehmigungen eingeholt werden", sagt auch Leopold. Er rät dazu, direkt mit den Kommunen zu sprechen, es ließen sich durchaus Einigungen finden: „Bei den Behörden arbeiten auch nur Menschen, die mit sich reden lassen."

Leopold würde sein Tiny House um nichts in der Welt wieder hergeben. Auch gilt er inzwischen längst nicht mehr als Spinner. Wenn heute Leute an seinem knallblauen, mobilen Mini-Häuschen vorbeiradeln, dann winken sie. PS: Sind Sie bei Facebook? Werden Sie Fan von BILD.de-Lifestyle!
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