Jenny Beck

Freie Journalistin, Berlin

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Rettungsgeschwister: Wenn Kinder für die Gewebespende künstlich gezeugt werden | Qiio Magazin

Ein Kind wird in der Petrischale gezeugt, um einem kranken Geschwisterkind das Leben zu retten. Während sogenannte Rettungsgeschwister in anderen Ländern längst als Behandlungsmöglichkeit lebensbedrohlicher Krankheiten genutzt werden, ist die Zeugung eines Rettungskindes in Deutschland verboten. Wird das für immer so bleiben?

Die Matthews aus Norfolk, Großbritannien, sind keine gewöhnliche Familie. Mit drei Jahren wird bei Tochter Megan die seltene Erbkrankheit Fanconi-Anämie diagnostiziert, die früher oder später zu Knochenmarkversagen führen kann. Megan braucht dringend eine Knochenmarktransplantation, aber weder ihr älterer Bruder noch ihre Eltern sind geeignet und auch sonst findet sich kein*e passende*r Spender*in. Katie und Andy Matthews entscheiden sich schließlich für die Zeugung eines weiteren Kindes. Eines, das gesund ist und Megan mit seinem Gewebe helfen kann. Im Jahr 2008 wird Bruder Max geboren, ihr ganz persönlicher Spender. Seine DNA ist zugeschnitten auf die gesundheitlichen Bedürfnisse der großen Schwester.

Max Matthews ist ein sogenanntes Rettungsgeschwister. Eines von mindestens sieben weiteren, deren Fälle mediale Aufmerksamkeit generierten. Wie viele Kinder darüber hinaus künstlich gezeugt wurden, um mit einer Gewebespende Leben zu retten, ist unbekannt. Das erste künstlich gezeugte Rettungsgeschwister wurde im Jahr 2000 in den Vereinigten Staaten geboren, um seiner Schwester, die wie Megan an Fanconi-Anämie erkrankt war, Gewebe zu spenden. Der reproduktionsmedizinische Eingriff, der für die künstliche Zeugung eines Rettungsgeschwisters vorgenommen wird, ist neben Großbritannien und den Vereinigten Staaten auch in Spanien, Belgien, Indien, Frankreich und Australien erlaubt. Von den medial bekannten Rettungskindern konnten alle acht ihren erkrankten Geschwistern helfen. Für die Gewebespende wurde ihnen direkt nach der Geburt Nabelschnurblut oder etwa ein Jahr später Knochenmark entnommen.

Auch Max wird im Alter von einem Jahr einem Eingriff unterzogen. Seit der Knochenmarkspende geht es seiner Schwester Megan laut BBC News zunehmend besser. Doch wie wird ein solches Rettungskind gezeugt? Um sicherzustellen, dass das Gewebe des Kindes später zu dem von Megan passt, suchen die britischen Eltern ein Jahr zuvor eine Kinderwunschklinik in Nottingham auf. Dort finden die Reproduktionsmediziner*innen mithilfe von In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik zwei Embryonen, die selbst frei von der Erbkrankheit sind und passendes Gewebe für eine spätere Spende aufweisen. Beide Embryonen werden der Mutter Katie implantiert und neun Monate später kommt Max zur Welt.

In Deutschland verstößt solch ein Verfahren gegen das Gesetz

Seit den 1990ern bietet die Präimplantationsdiagnostik Reproduktionsmediziner*innen die Möglichkeit durch In-vitro-Fertilisation (also die künstliche Zusammenführung von Eizellen und Spermien im Glas) gezeugte Embryonen auf genetische Eigenschaften zu untersuchen und diejenigen auszuwählen, die besonders gute Überlebenschancen haben. In Deutschland war die Praxis in Hinblick auf das Embryonenschutzgesetz lange umstritten. Die Zeugung einer Vielzahl von Embryonen und anschließende Auswahl einiger weniger, die zur Übertragung in die Gebärmutter genutzt werden, wird noch heute kontrovers diskutiert. Im Jahr 2011 wurde im deutschen Bundestag entschieden, dass die Verwendung von Präimplantationsdiagnostik lediglich dann zulässig ist, wenn zu befürchtende schwerwiegende Erbkrankheiten sowie Tot- oder Fehlgeburten damit ausgeschlossen werden können. Die zuständige Ethikkommission muss jeden Antrag auf Verwendung der Präimplantationsdiagnostik hierfür einzeln prüfen.

Dr. med. Ulrich Knuth, kommissarischer Vorsitzender des Bundesverbands reproduktionsmedizinischer Zentren, wünscht sich einen einfacheren Zugang: „Wir als Reproduktionsmediziner wären sehr dafür, dass wir die Präimplantationsdiagnostik in jedem Fall nutzen können, um die sich optimal entwickelnden Embryonen in die Gebärmutter zu übertragen." Die Praktik würde es ermöglichen, mit größerer Sicherheit diejenigen Embryonen zu finden, die sich gut entwickeln und so Fehlgeburten oder Erkrankungen vorzubeugen. Dadurch könne eine Krankheit, wie jene, unter der Megan Matthews leidet, bereits vor der Geburt ausgeschlossen und die Zeugung eines Rettungsgeschwisters hinfällig werden. Rechtsanwalt Holger Eberlein sieht die Situation ähnlich. Der Fachanwalt für Medizinrecht bezeichnet das Embryonenschutzgesetz, auf dem der eingeschränkte Zugang zur Präimplantationsdiagnostik beruht, „als ein Strafgesetz, das [s]einer Ansicht nach im Wesentlichen durch Vorbehalte und Angst geprägt wurde und die Entwicklung der Reproduktionsmedizin in Deutschland maßgeblich behindert."

Blenden wir die umstrittene Präimplantationsdiagnostik für einen Moment aus, sehen wir, dass ein Kind nicht künstlich gezeugt und ausgewählt werden muss, um aufgrund des geeigneten Gewebes als Spender zu fungieren. Das erste bekannte Rettungskind, Marissa Ayala, wurde 1990 nach einer natürlichen Befruchtung geboren, um ihrer Schwester Anissa zu helfen. Rettungsgeschwister können also trotz des verwehrten Zugangs zur Präimplantationsdiagnostik auch in Deutschland gezeugt werden. Dafür muss neben der genetischen Eignung als Spender*in die Verfügung der Eltern über das Gewebe des minderjährigen Kindes gegeben sein. Während die Lebendorganspende durch minderjährige Personen in Deutschland unzulässig ist, besteht aber auch hierzulande die Möglichkeit der Knochenmarkspende durch minderjährige Personen. Diese ist in Paragraph 8a des Transplantationsgesetzes geregelt. Demnach können Eltern für ihr minderjähriges Kind entscheiden, solang dieses nicht selbst in der Lage ist, eine informierte Entscheidung zu treffen. Das Knochenmark Minderjähriger kann für Verwandte ersten Grades sowie Geschwister verwendet werden.

Kein Kind um der Rettung willen

Die Emotionen und Gedanken des Elternteils eines tödlich erkrankten Kindes vermögen wohl nur Menschen nachzuvollziehen, die in eben jener Situation stecken. Arztbesuche, Tests, die Suche nach einer geeigneten Spende, Hoffnungsschimmer. Und dann findet sich doch kein*e Spender*in, der/die dem eigenen Kind helfen kann. Wann es zu dem Entschluss kommt, Rettungsgeschwister selbst zu erschaffen, ist wohl bei allen Eltern unterschiedlich.

Reproduktionsmediziner Knuth ist beruflich öfter mit Eltern konfrontiert, die sich ein gesundes Kind wünschen und kann diesen Wunsch im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik erfüllen. Ein Rettungsgeschwister darf er nicht zeugen. Der Vorsitzende des Bundesverbands reproduktionsmedizinischer Zentren vermag sich kein Urteil darüber erlauben, ob jene Zeugung moralisch vertretbar ist. Er kann jedoch das Bedürfnis der betroffenen Eltern nachvollziehen: „Wenn man ein krankes Kind hat und die Möglichkeit hätte, es durch ein gesundes Kind zu heilen, dann ist offensichtlich, dass man es machen möchte." Den Begriff „Rettungsgeschwister" möchte er am liebsten ausblenden. Ihm behagt der Gedanke nicht, dass Menschen „nicht um des Kindes Willen, sondern um das andere Kind zu heilen" ein solches Geschwister zeugen. Auch Katie und Andy Matthews sprechen sich gegenüber der Eastern Daily Press gegen den Begriff aus. „Ich mag den Ausdruck des Rettungsgeschwisters nicht", sagt Max' Mutter und fügt hinzu: „Wir haben Max bekommen, weil wir ein drittes Kind wollten. Für mich ist er kein Rettungsgeschwister, sondern ein Teil der Familie, die wir immer wollten."

Mit der Pflicht zu retten geboren

Professorin Dr. Christina Schües vom Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck hat trotz allem moralische Bedenken. Seit Jahren beschäftigt sich die Professorin für Medizinphilosophie mit der Funktion von Kindern als Spender*innen und ist so mit der Thematik der Rettungsgeschwister in Kontakt gekommen. Sie gibt zu bedenken, dass „dem Körper des Spenderkindes biologisch die Pflicht eingeschrieben [ist], dem Geschwisterkind ein körperliches Therapeutikum weiterzugeben". Jene Pflicht könne einem Embryo, und später einem nicht-einwilligungsfähigen Kind, nicht zugeschrieben werden. Das Rettungsgeschwister wird jedoch mit dieser Pflicht geboren und bleibt „sein Leben lang der mögliche Spender für (mindestens) das eine Geschwisterkind". Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann ein Kind zwar selbst entscheiden, ob es spenden möchte oder nicht, es wird aber weit über das Kindesalter hinaus mit den genetischen Anlagen ausgestattet sein, die es dazu befähigen, dem Geschwisterkind Gewebe oder gar Organe zu spenden. So bleibt das Rettungsgeschwister, obgleich die Eltern von Max Matthews den Begriff gerne ablegen würden, laut Schües sein Leben lang genau das: Ein Geschwister, das die Möglichkeit und die ihm eingeschriebene Pflicht trägt, mit den Ressourcen des eigenen Körpers die kranke Schwester oder den kranken Bruder zu retten.

Während die Thematik ethisch und moralisch umstritten bleibt, sind sich in einem Punkt alle einig: „Die [ethischen] Fragen kann man ewig diskutieren, auf eine kann man aber mit hinreichender Gewissheit antworten - in Deutschland wird sich an den Verboten [der Zeugung eines Rettungsgeschwisters durch Präimplantationsdiagnostik] in absehbarer Zeit nichts ändern", erklärt Eberlein. Daher ist es umso wichtiger, dass die Forschung verlässliche Alternativen findet. Schües hält die Auswahl eines Rettungskindes ohnehin für einen „eher langwierigen und umständlichen Weg", da es nach der Geburt noch ein Jahr dauert bis der Körper eines Rettungsgeschwisters genügend Blutstammzellen für eine Spende entwickelt hat. Biomedizinische Entwicklungen machen es derweil immer wahrscheinlicher, dass auch Gewebe einer*eines nicht verwandten Spender*in erfolgreich transplantiert werden kann. Wie in Megan Matthews Fall scheitert die Stammzellspende durch eine*n nicht verwandten Spender*in oft nur an der Suche nach einer geeigneten Person. In Deutschland sind derzeit über neun Millionen potenzielle Spender*innen im Zentralen Knochenmarkspender-Register Deutschland erfasst. Nachdem die Datenbanken im Jahr 2019 die meisten Neuzugänge verzeichneten, ist die Zahl der neu registrierten Personen im Jahr 2020 drastisch gesunken. Wenn Schües sich also eine Ausrichtung der Forschung wünscht, die ermöglicht, „dass das Gewebe nicht verwandter Spender genutzt werden kann", setzt dies voraus, dass sich mehr Menschen typisieren lassen und von suchenden Familien als potenzielle Stammzellspender*innen gefunden werden können. Damit sich Eltern in Zukunft nicht mehr die Frage stellen müssen, ob ein Kind für die Rettung eines anderen herhalten sollte. Und kein Kind mehr mit der Aufgabe auf die Welt kommt, sein Geschwister zu retten.

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