Jenny Beck

Freie Journalistin, Berlin

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Stealthing, das heimliche Entfernen des Kondoms - 6 Frauen berichten - im gegenteil

Gemma Chua-Tran via Unsplash

Im November 2020 steht in Kiel ein Mann vor Gericht, der während des Geschlechtsverkehrs mit einer Frau das Kondom heimlich und ohne deren Einverständnis entfernte. Er wird freigesprochen. Begründung: Er hatte nicht in ihr ejakuliert. Die Anwältin des Opfers und der Staatsanwalt legen Revision ein.

Die Handlung wird als Stealthing bezeichnet und gilt in Deutschland seit dem obergerichtlichen Urteil durch das Berliner Kammergericht im Jahr 2020 als Sexualstraftat - allerdings nur wenn der Mann nach heimlicher, nicht-einvernehmlicher Abnahme des Kondoms auch in der Sexualpartnerin oder dem Sexualpartner ejakuliert.

Die ausbleibende Ejakulation des Täters schützt ihn vor einer potenziellen Strafe. Das Opfer schützt sie weder vor psychischer noch physischer Gesundheitsgefährdung. Auch nicht vor ungewollter Schwangerschaft. Ein Mensch, der sich auf Geschlechtsverkehr einlässt, unter der Bedingung, dass dieser mit Kondom durchgeführt wird, wird seiner sexuellen Selbstbestimmung beraubt, sobald das Kondom ohne Einverständnis abgenommen wird - ob der Mann nun ejakuliert oder nicht.

In unserer Umfrage bei Instagram haben 10% der Teilnehmenden angegeben, selbst bereits Stealthing erlebt zu haben. Sechs Frauen davon erzählen nun hier, wie es ist, wenn der Sexualpartner das Kondom plötzlich gegen den eigenen Willen entfernt. Jede geht individuell mit dem sexuellen Übergriff um und jede wird auf ihre Weise noch heute davon begleitet.

Christina, 24: „Ich entschied mich für die HIV-Postexpositionsprophylaxe."

Knutschend und nackt lagen wir beieinander, als ich ihm ein Kondom in die Hand drückte. Ein alter Bekannter. Ich hatte ihn aus dem Club mit nach Hause genommen. „Die passen mir meistens nicht und beschränken mich. Ich mag das nicht so gerne", erklärte er mit Blick auf das Kondom. „Ohne Kondom möchte ich keinen Sex", entgegnete ich.

„Okay, dann nicht." Wir knutschten weiter, bis er sich schließlich entschied, es doch mit Kondom zu versuchen. Unter der Decke zog er es an - dachte ich. Erst als er kam, wurde mir klar, dass er nur so getan hatte. Im ersten Moment war ich irgendwie gar nicht wütend, sondern einfach total geschockt, in einer Starre. Er verstand überhaupt nicht, warum ich schließlich doch wütend wurde. Ich schmiss ihn aus der Wohnung, weil ich wusste: Egal, was ich jetzt mache, ich will ihn nicht sehen. Ich will nicht, dass er hier ist.

In meinem Kopf waren so viele Gedanken. Lange Zeit stand ich unter der Dusche, fühlte mich ekelhaft und wollte mich innerlich und äußerlich abbrausen. Ich fand den Gedanken unerträglich, dass etwas mit meinem Körper passiert war, das ich selbst nicht hatte bestimmen können. Von dem ich ausdrücklich gesagt hatte, dass ich es nicht möchte. Das war und ist eigentlich das Schlimmste: Dass jemand wissentlich etwas gegen meinen Willen mit meinem Körper gemacht hat.

Schließlich ging ich zur Apotheke, um die Pille danach zu besorgen. Ich nahm sie auf leeren Magen - nicht die beste Idee, aber ich fühlte mich so sicherer. Eine Freundin, der ich das Geschehene in einer Sprachnachricht erklärt hatte, rief mich an und sagte, ich müsse sofort zum Arzt.

Als ich über den Übergriff sprach, merkte ich, dass ich versuchte, passive Redewendungen zu vermeiden. Ich wollte kein Opfer sein. Für mich machte es einen großen Unterschied, dass mich schließlich eine Ärztin behandelte. Männern* gegenüber fiel es mir schwerer, von dem Übergriff zu reden, wie ich später im Gespräch mit einem Arzt bemerkte.

Die Ärztin machte sämtliche Abstriche. Es hat sich wahnsinnig schlimm angefühlt, zu wissen, dass ich auf einige Ergebnisse Wochen warten müsste. Ich hatte große Angst vor einer HIV-Infektion und entschied mich schließlich für die Postexpositionsprophylaxe. Zwei Pillen täglich für vier Wochen, die die Ansteckung verhindern sollten.

Während der vier Wochen, in denen ich die Medikamente einnahm, litt ich unter starken Nebenwirkungen. Sie brachten meinen Menstruastionszyklus durcheinander, ich hatte krasse Probleme mit Magen und Darm, war schlapp und müde. Ich konnte nicht an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, aber Leute fragten natürlich nach mir. Das hat mich immer wieder getriggert. Ich wollte einfach nicht über den Grund für meine Abwesenheit sprechen.

Noch heute beeinträchtigt mich, was damals passiert ist. Obwohl es über ein Jahr her ist. Ich denke immer noch darüber nach und es schränkt mich nach wie vor beim Sex ein. Ich kann mich einfach nicht so fallenlassen wie davor. Ich habe lange mit einem Therapeuten darüber gesprochen, was hilfreich war. Zehn Wochen nach besagter Nacht folgte schließlich die große Erleichterung: Sämtliche Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten waren negativ.

Hanna, 22: „Ich hätte dem ohne Kondom nie zugestimmt."

Ich traf einen ehemaligen Kommilitonen von mir wieder - eigentlich ein herzensguter Typ, vielleicht etwas depressiv. Wir tranken ziemlich viel und ich nahm ihn dann mit nach Hause. Ich wollte gerne mit ihm schlafen, also führte eins zum anderen. Er zog sich ein Kondom über, bekam dann aber nicht mehr so richtig einen hoch, sodass ich vorschlug, er könne mich ja auch mit einem Dildo befriedigen.

Er nahm das Kondom also ab - wir dachten ja, wir bräuchten es nicht mehr. Er war hinter mir und hatte den Dildo in der Hand, es machte Spaß. Plötzlich penetrierte er mich dann doch einige Male mit seinem Penis (natürlich dann ohne Kondom). So richtig habe ich erst am nächsten Morgen gecheckt, was da eigentlich passiert war. Er war nicht in mir gekommen, aber es war auf jeden Fall nicht abgesprochen und ich hätte dem ohne Kondom nie zugestimmt.

Leider hatte ich nicht mal seine Nummer, um ihm danach die Meinung zu geigen. Ehrlich gesagt habe ich diesen Zwischenfall mittlerweile in einen hinteren Teil meines Gehirns geschoben und denke eigentlich nie daran. Das liegt wohl daran, dass ich mich damit nicht so richtig auseinandersetzten will.

Wenn ich mir erlaube, darüber nachzudenken, kreisen mir Gedanken durch den Kopf, wie etwa „Ist ja keine große Sache" oder auch „Du wolltest ja auch mit ihm schlafen". Denke ich länger darüber nach, verfalle ich in eine Art „Schockstarre". Darüber, was alles hätte passieren können und auch darüber, dass ich in dem Moment nichts gesagt habe. Ich glaube, Verdrängung des Geschehenen trifft es ganz gut.

Lara, 38: „Ich kannte den Begriff 'Stealthing' damals noch nicht."

Meinen Ex, um den es hier gehen soll, lernte ich vor etwa sechs Jahren im Internet kennen - er war mit Freunden von mir befreundet und nach einigen schönen Dates war klar, dass wir potenziell zusammen waren. Drei Monate nach unserem ersten Treffen zog er beim Sex - ohne (mir) ersichtlichen Grund und ohne, dass er gefragt hatte - das Kondom ab.

Ich merkte das erst, als wir fertig waren und ich das Kondom auf dem Boden sah. Ich sprach ihn sofort darauf an. Er fand das nicht so wild und hatte, wie ich fand, auch keine sinnvolle Erklärung. Schockiert und perplex, wie ich war, zog ich mich an und ging.

Verhütung war mir immer wichtig gewesen - nicht nur wegen ungewollter Schwangerschaften, sondern auch wegen potenzieller Geschlechtskrankheiten. Ich hatte kein einziges Mal mit jemandem ohne Kondom geschlafen, mit dem ich nicht wirklich lange und monogam zusammen war. Auch diesem Mann gegenüber hatte ich meine Einstellung zu Verhütung oft erwähnt, er hatte nie etwas Gegenteiliges geäußert.

Ich kannte den Begriff „Stealthing" damals noch nicht und hatte noch nie darüber nachgedacht, dass so etwas überhaupt passieren könnte, wusste aber sofort, dass er eine persönliche Grenze überschritten hatte. Am selben Abend saß ich mit Freund:innen zusammen beim Dinner und erzählte davon. Alle waren sich einig: Das geht gar nicht!

Ich brauchte noch zwei Wochen, dann trennte ich mich von ihm. Im Nachhinein würde ich mir wünschen, ich hätte den Vorfall stärker thematisiert, hätte ihm gesagt, wie sehr er mein Vertrauen beschädigt hatte und ihn davor gewarnt, das jemals wieder bei einer anderen Person zu tun. Die wirkliche Wut über sein Verhalten kam aber erst viel, viel später - und hält bis heute.

Jana, 29: „Ich hab mich hilflos und schmutzig gefühlt."

Ich war damals sehr jung, etwa 15. Es war der Kumpel einer Freundin. Wir haben getrunken und als es zur Sache ging, habe ich ihn gestoppt und auf das Kondom bestanden. Er wollte mich erst überzeugen, dass wir es nicht brauchen. Als ich gesagt habe, dass ich ohne nicht mit ihm schlafe, hat er ein Kondom herausgeholt und übergezogen. Ich bin nicht sicher, ob er nur so tat oder es während dem Sex abgezogen hat.

Nachdem er gekommen ist, hat er gelacht und gesagt: „Haha, du hast gar nichts gemerkt, aber ich habe dich gerade ohne Kondom gef**." Ich war absolut angeekelt und hab mich hilflos und schmutzig gefühlt. Hinzu kam die Angst vor Krankheiten. Ich habe ihn danach nie wiedergesehen.

Heute beeinflusst mich das nicht mehr besonders stark. Allerdings bin ich sehr viel achtsamer, vor allem wenn ein Mann zuerst andeutet, auf das Kondom verzichten zu wollen, dann achte ich schon darauf, dass er auch wirklich eines trägt.

Milena, 26: „Ich war so perplex, dass ich nichts sagte, weitermachte."

Mit 23 wohnte ich für einige Monate in Singapur und war öfter in anderen Ländern Südostasiens unterwegs. In Malaysia lernte ich auf einer verlassenen Insel einen jungen Mann aus New York kennen. Wir tauschten Nummern und updateten uns nach meinem Aufenthalt in Malaysia immer mal wieder, wo wir sind und was wir so machen. Einen Monat nach meiner Abreise aus Malaysia kam er dann nach Singapur, um mich zu sehen. Wir trafen uns in einem Hotel, in dem ich damals für einige Nächte wohnte.

Als es schließlich zum Sex kam, bestand ich auf ein Kondom. Er hatte keins dabei und die, die ich dahatte, waren ihm zu klein. Ich schlug vor, welche im Kiosk um die Ecke zu kaufen und aus Ungeduld zog er schließlich doch eines von meinen über. Als es dann aber zum Stellungswechsel kam, nahm er das Kondom scheinbar heimlich ab, was ich bereits kurze Zeit später bemerkte.

Ich war so perplex, dass ich nichts sagte, weitermachte und lediglich sicherging, dass er nicht in mir kommt. Ich fühlte mich ein bisschen wie gelähmt. Ich frage mich heute oft, warum ich nichts gesagt oder abgebrochen habe. Was mich damals so handlungsunfähig gemacht hat.

Ich denke, es war eine Mischung aus einer innerlichen Angst vor weiterer Missachtung meiner Selbstbestimmung und einem völlig verqueren Verständnis meines Selbstwerts, das mich glauben ließ, ich müsse ihm jetzt sexuell was bieten, nachdem er den weiten Weg auf sich genommen hatte.

Ich musste in derselben Nacht eine Freundin vom Flughafen abholen, deswegen trennten sich unsere Wege etwa eine Stunde nach dem Vorfall. Noch ein Jahr später schrieb er mir regelmäßig. Nach den ersten zwei Nachrichten antwortete ich nicht mehr. Ich realisierte plötzlich, was da passiert war und wie falsch es gewesen war.

Mich selbst überrascht, wie schwer es mir fällt, das hier aufzuschreiben. Mich hinzusetzen mit allen Gedanken und Gefühlen und Bildern vor meinem inneren Auge. Übergriffe wie diese sorgen in mir noch heute für Momente während des Sex, in denen ich mich handlungsunfähig und fremdbestimmt fühle.

Wiebke, 25: „Er sagte: 'Nicht, dass du mir noch ein Kind unterjubeln willst.'"

Nach einem Guten-Morgen-Kuss wollte ich mich anziehen, er drückte mich jedoch gegen die Küchentheke und fing an, mich leidenschaftlich zu küssen und auszuziehen. Ich sagte ihm noch, dass er daran denken soll, ein Kondom überzustreifen, da ich gerade meine fruchtbaren Tage hätte. Er willigte ein, holte ein Kondom aus dem Nebenzimmer, zog es über und los ging's ...

Nach ein paar Stellungswechseln hörte ich, wie er fast am Höhepunkt war. Plötzlich zog er seinen Penis aus mir und ejakulierte auf meinen Rücken. In diesem Moment war mir klar, dass er das Kondom heimlich und gegen meinen Willen entfernt haben musste. Ich musste mich kurz sammeln, drehte mich dann mit Tränen in den Augen um und sah ihn an. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas zu ihm sagte, aber ging sofort mit meinen Klamotten und dem Handy in der Hand ins Bad und schloss die Tür zu.

Ich begann zu weinen und versuchte, meine beste Freundin zu erreichen, die nicht ans Telefon ging. Ich zog mich also langsam, starr vor Entsetzen an und realisierte Stück für Stück, was gerade geschehen war. Zum Glück ist er nicht in mir gekommen, dachte ich. Aber reicht das als „Rechtfertigung" für das, was er da gemacht hat? Nein.

Nach etwa 30 Minuten im Bad, die vor allem aus einem inneren Monolog mit mir selbst bestanden, wie der Abschied jetzt genau ablaufen soll, verließ ich das Bad. Ich traf ihn in der Küche an und sagte, ich werde nach Hause fahren. Er hatte wohl gemerkt, dass er etwas falsch gemacht hat, wusste aber nicht wirklich, was es war. Denn als ich ihm sagte, es wäre nicht in Ordnung gewesen, das Kondom abzuziehen, sagte er, ich wüsste doch, dass er mit Kondom nicht gut kommen kann.

Im weiteren Gespräch ging es noch darum, dass ich sicherheitshalber die Pille danach nehmen werde, weil ich wenigstens eine Schwangerschaft zu 100 Prozent ausschließen wollte. In dem Kontext sind noch Sätze gefallen wie „Dann holen wir dir jetzt die Pille danach und ich will dabei sein, wenn du sie nimmst. Nicht, dass du mir noch ein Kind unterjubeln willst."

Rückblickend denke ich, es war eine Handlung, mit der er die Kontrolle über mich „zurückerlangen" wollte. Ich denke nicht, dass er es bereut, denn in diesem Moment damals hat er sich freiwillig und egoistischerweise dafür entschieden, meinen ausdrücklichen Wunsch nach Verhütung beim Geschlechtsverkehr zu missachten. Ich denke, er wollte mich wohl wissend, dass es das letzte Treffen sein könnte, demütigen und vielleicht sogar zeichnen, sodass er mir immer im Gedächtnis bleibt...

Wenn dir selbst oder einer Person in deinem Umfeld sexualisierte Gewalt widerfährt, kannst du dich zum Beispiel an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" oder „Gewalt an Männern" wenden, zur Polizei gehen oder die Polizei anrufen. Du bist nicht allein.Mehr Infos zum Thema findest du in unserem Instagram-Story-Highlight. Zum Original